Hoher Blutdruck ist kein Verbrechen

Ryan Radecky (emlit of note) hat in einem kurzen aber prägnanten Artikel diese These aufgestellt. Nach seinem Dafürhalten muss man dafür nicht bestraft werden (sprich: in einer Notaufnahme mit Kabeln, Laborwerten, EKGs und Röntgen malträtiert werden).

Halleluja, hat er recht.

Auch wenn es allen eingebläut wird, gibt es keine Daten dafür, dass ein alleiniger hoher Blutdruck (die unsägliche „hypertensive Krise“) akut behandelt werden muss. Im Gegenteil: langsames Senken und Neueinstellung der Medikamente ist so viel wichtiger als das Herumdoktorn an irgendwelchen Surrogatparametern. Hier ist die Klinik immer führend, so lange der Patient keine red-flags  zeigt (für Endorganschäden wie Brustschmerzen oder neurologisches Defizit – und unspezifischer Schwindel oder milde Kopfschmerzen gehören nicht dazu), kann er direkt von der Rettungsdienstliege wieder runter und nach Hause gehen.

Nein. Kein EKG.

Auch kein Notfalllabor.

Kein Urapidil. Nitro auch nicht. (ist sowieso kein Blutdrucksenker). Niemals Nifedipin! Das akute Senken insbesondere mit Nifedipin provoziert sogar Komplikationen wie akute Myokardinfarkte.

Natürlich kann man den Patienten etwas geben, ein Amlodipin z.b., das wirkt über 24h und senkt den Blutdruck langsam, vor allem wenn der Patient unangenehme Symptome hat. Und: der Patient hat das Gefühl, man habe was getan. Viel wichtiger aber ist die Aufklärung und das Gespräch mit dem Patienten: dass dies kein akut lebensbedrohlicher Notfall ist und der Patient nicht alle 5 Minuten nachmessen sollte, aber die langfristige Behandlung (und Diagnostik!) der Schlüssel zum Erfolg ist. Nämlich Schlaganfall oder Herzerkrankung zu verhindern.

Bestätigt wird das Ganze in einer kürzlich veröffentlichten Studie aus dem JAMA Intern Med., in der 58535 Patienten mit „hypertensiver Entgleisung“ (definiert als Blutdruck größer 180mmHg systolisch oder 110mmHg diastolisch) in den Jahren 2008 – 2013 ausgewertet wurden. Im Prinzip wurde zwischen Patienten, die in die Notaufnahme geschickt wurden, und ambulant behandelten Patienten (z.B. Arztpraxis) unterschieden.

Und was war das Ergebnis?

Beide Gruppen hatten einen schlecht eingestellten Blutdruck nach 1 und 6 Monaten, beide hatten die gleiche Rate an MACE (major adverse cardiac events), aber die Notaufnahmepatienten wurden häufiger stationär aufgenommen – ohne jegliche Konsequenz.

Eine retropsektive Kohortenstudie von 2015 im American Journal of Emergency Medicine hat sich angeschaut, wie sich die Kohorte derer, die in der Notaufnahme ein Medikament bekommen haben (meist Clonidin, eine für mich tolle Alternative zu Amlodipin, aber nicht unumstritten, weil auch die Gefahr von zu rascher Senkung), von der unterschieden hat, die gar nix bekommen hat: Ihr habt es schon geahnt, auch hier gibt es keinen Unterschied (untersucht wurden erneute Notaufnahme-Besuche und Tod nach 1 Monat und 1 Jahr)

Quelle:

http://www.emlitofnote.com/?p=3133

http://archinte.jamanetwork.com/article.aspx?articleid=2527389

http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S073567571500457X

http://annals.org/aim/article/702048/nifedipine-associated-myocardial-ischemia-infarction-treatment-hypertensive-urgencies

Wie immer gilt: der Einzelfall entscheidet, die genannten Empfehlungen sind ohne Gewähr, die Verantwortung liegt bei der behandelnden Ärztin bzw. dem behandelnden Arzt. Wie alle unsere Artikel behandelt auch dieser eine notfall- bzw. akutmedizinische Situation, nicht die Versorgung auf Station oder der Hausarztpraxis.

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9 Kommentare

  1. Wohooo…. vielen Dank für diesen kurzen, prägnanten und guten Artikel. Würde sich das nun endlich mal in der Breite rumsprechen und die Leitstelle vernünftig abfragen so würde sich der ein oder andere NA- oder gar Rettungsdiensteinsatz in Rauch auflösen!

  2. Ausdrucken und in jeder Rettungsstelle in den Warteraum.
    Als Merkblatt von uns, Rettungsdienst, beim Patienten lassen

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