Es ist 5 nach 12.

Ich bin seit 10 Jahren Krankenschwester in einer Zentralen Notaufnahme und das mit Leib und Seele. Und ich muss ohnmächtig zusehen, wie meine Abteilung stirbt. Vermutlich ist Ihnen die Dringlichkeit nicht bewusst und Sie sehen das Herzblut, das hier vergossen wird, nicht.
Im Jahr 2019 werden von unseren Pflegekräften fast die Hälfte unsere ZNA verlassen. Darunter erfahrene Notaufnahme-Urgesteine mit all ihrem Wissen. Unserer Klinik scheint das gleichgültig zu sein. Zumindest ist mein Eindruck, dass bei Kündigung eines Handyvertrages mehr Aufwand betrieben wird, den Kunden zu halten, als hier.
Der Personalflucht wird tatenlos zugesehen. Kürzlich haben wir eine neue Stationsleitung bekommen, die allerdings noch in der Probezeit das Handtuch geworfen hat. Sie konnte mit unserem Personalschlüssel einfach keinen Dienstplan mehr aufstellen.
Es fühlt sich an, als werden wir hier an der Frontlinie des Klinikums ausgehungert. Verstehen Sie mich nicht falsch, wir arbeiten hier gern viel und intensiv und das mit Freude. Aber wenn Dienstkonstellationen zugelassen werden, in denen wenige Stammpflegekräfte mit ungelernten Hilfskräften und unerfahrenen Studenten eine komplexe, hochfrequente Notaufnahme versorgen sollen, wird mir schlecht. Wir haben die Verantwortung eine Großstadt und deren Notfallversorgung zu sichern. Es gibt keine Alternative zu uns. An diesen Tagen kann ich nur für die Kollegen und für alle Patienten hoffen, dass das gut geht. Das keine Schockräume gleichzeitig laufen müssen, denn das wird nicht funktionieren, weil niemand da ist.
Wir können nicht wie die Intensivstationen, über die gerade so viel geschrieben wird Betten sperren, unsere Tür geht immer auf und mit dem, was da kommt, MÜSSEN wir umgehen.
Mir ist klar, dass Notaufnahme personalplanerisch ein undankbares Gebiet ist, weil das Arbeitsaufkommen inhomogen ist – und ja, manchmal gibt es verhältnismäßig genug Personal für das Patientenaufkommen. Aber das ist selten und es gibt regelmäßig Spitzen, in denen es um Menschenleben geht, wir aber nur noch Mangel verwalten und Lücken auf persönliche Kosten schließen. Und es könnte auch Ihre Familie oder Sie selbst treffen, die dann eben nicht ausreichend versorgt werden, weil wir am oder gar deutlich unter dem untersten Limit geplant sind.
Dass wir zu wenige sind, ist kein Gefühl, das sind Fakten und Zahlen: Wir schieben Unmengen Überstunden und nicht genommene Urlaubstage vor uns her – ohne die Aussicht, diese je wieder zu bekommen. Keiner möchte mehr die Verantwortung dafür übernehmen, was wir hier in unserer Abteilung tun.
Harte Worte. Aber Dienstpläne so zu dulden, wie sie aktuell sind, fühlt sich moralisch an, als würde man bei einem Gewaltverbrechen Schmiere stehen. Das hat nichts mehr mit Ethik und dem Selbstverständnis zu tun, warum wir Pflegekräfte geworden sind.
Wenn ich die Öffentlichkeitsarbeit der Klinik beobachte, fällt es mir schwer zu verstehen, dass teure Geräte oder neue Professoren eingekauft werden – nur für die Menschen an der Front ist kein Geld da. Niemand ist mehr da, der im Schockraum bei Luftnot Masken auf Gesichter hält, niemand, der Medikamente bei einem Schlaganfall aufzieht, niemand, der polytraumatisierte Kinder und Erwachsene versorgt – ja und auch niemand, der einer älteren Dame, die drei Tage in ihrer Wohnung lag, hilft und sie von ihren Exkrementen säubert. Auch das ist Notfallmedizin.
Wir haben einen Imageschaden, der auf Jahre nicht zu beheben sein wird. Ich werde in der Öffentlichkeit, sei es auf dem Weihnachtsmarkt oder im Fitnessstudio angesprochen, was denn bei uns los sei. „Und ihr rottet euch jetzt selber aus?“. Nein, die Notaufnahme und das Gesundheitswesen sind keine attraktiven Arbeitgeber mehr.
Unser Stammpflegepersonal wird sich 2019 halbieren. Ich will Notfallmedizin nicht in den Himmel heben, aber das ist ein extrem breit aufgestelltes Fachgebiet, das vom klinischen Blick und von der Erfahrung der Pflegenden lebt. Wir verlieren Fachexpertise, die einfach so gehen gelassen wird. Die neuen Kollegen wird niemand mehr qualitativ hochwertig oder gar ausreichend einarbeiten können. Es ist nicht 5 vor 12, das Kind ist längst in den Brunnen gefallen.
Niemand kann einem Hoffnung geben, dass im Januar 2019 massenweise Stellenausschreibungen zu erwarten sind. Es fehlt die Perspektive und Strategie, uns  zu retten. Am Ende ist das Schlimmste diese Ohnmacht, diese Resignation und Hilflosigkeit, mit der wir hier tagtäglich lernen müssen zu leben.


Der Autor/die Autorin möchte anonym bleiben, der Brief wurde uns übergeben und etwas abgewandelt um keine Rückschlüsse auf Autoren oder Kliniken zu ermöglichen. Die Situation ist auf die meisten Kliniken problemlos übertragbar.

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