Über Macht und Stolz

Als ich heute durch meinen Twitterfeed scrollte, stolperte ich unvermittelt über folgenden Tweet einer Pflegekraft aus den Vereinigten Staaten. Ich möchte hier kurz darlegen, was mich an der Äußerung dermaßen geärgert hat.

(Zu deutsch: Wenn du dir das nächste Mal überlegst grob zu deiner Krankenpflegekraft zu sein, denk daran dass wir die Größe der Nadel WÄHLEN können.)
Dieser Versuch witzig zu sein (und besorgniserregend erfolgreich, wenn man bedenkt wie oft der Post geteilt wurde) hebt sich nur wenig von den Ausfällen weiterer MitarbeiterInnen in anderen Regionen ab. Auch diese Rettungsdienst-Shirts suggerieren eine Spur schwarzen Humors, der allerdings eher auf das Zufügen körperlicher Gewalt oder Ausführung einer sozial nicht akzeptierten Handlung abzielt:

Nun stellen sich folgende Fragen: Warum lassen sich KollegInnen verschiedenster Disziplinen zu dieser Art von Humor hinreißen? Wieso erscheint es in ihrem Arbeitsumfeld so attraktiv und gewöhnlich? Retrospektiv habe ich ähnliches Verhalten vor allem in führenden Industrienationen beobachten können – weniger in Entwicklungs- oder Schwellenländern. Vielleicht ist sich medizinisches Fachpersonal dort seiner Stellung in der Gemeinde bewusst und allgemein angesehener (höhere Inzidenz lebensbedrohlicher Erkrankungen bei gleichzeitig schlechterer Versorgungsqualität).
MitarbeiterInnen, die unter zunehmender Frustration bezüglich ihrer beruflichen und persönlichen Identität leiden, tendieren dazu, ihr Erleben von Machtverteilung durch Dominanz gegenüber Schwächeren auszugleichen – im Gesundheitswesen sind das üblicherweise PatientInnen (Anm.: oder hierarchisch untergeordnete KollegInnen). Die Krankenpflegekraft aus unserem Beispiel nennt genau in diesem Sinne ihre Möglichkeit, einem Kranken als „Rache“ unnötigen Schmerz zuzufügen. Ich vermute dass es in diesem konkreten Fall letztendlich gar nicht wirklich dazu gekommen ist, aber allein das Bewusstsein in der Lage dazu zu sein, schafft ein Gefühl von Kontrolle und Macht – letztere fehlen unter Umständen in der üblichen Rolle des Personals und werden durch Gewaltausübung substituiert.
Selbst wenn wir davon ausgehen, dass das alles „harmlose“ Witze sind und dass diese MitarbeiterInnen so eine Handlung niemals ausführen würden (was je nach Fall Körperverletzung, der Misshandlung Schutzbefohlener und Behandlungsfehlern gleichkommt), muss definitiv festgehalten werden, dass solches Verhalten ein ernstes Problem darstellt, mit dem das Kollegium umgehen muss.
Nochmal: In einer Umgebung, in der dem Individuum kein Respekt, Anerkennung oder gewisse Macht zugestanden wird, gibt es einen automatisierten Drang dieses Missverhältnis durch die Dominanz gegenüber verletzlicheren Individuen zu korrigieren. Jede Situation, in der ein Mitarbeiter grundlos Dominanz gegenüber einem Patienten ausübt, ist potentiell verletzend und gefährlich, vor allem wenn die Machtverteilung im Gesundheitswesen diese Strukturen fördert.
Wenn Geduld, Empathie und Vertrauen gegenüber unseren Patienten vielleicht die selbstlosesten Eigenschaften sind, die man im täglichen Betrieb zeigen kann (auch Mitleid ist nicht so schwer), befürchte ich, dass diese in einer durch den Behandelnden als unrecht empfundenen Situation zuerst verloren gehen. Ich vermute weiterhin, dass der verärgerte und egozentrische Kliniker generell weniger relevante Differentialdiagnosen in Betracht zieht. (Und ich hoffe nicht ausführen zu müssen, warum willkürlich behandelte PatientInnen durch diese Art „Witze“ physisch oder psychisch weiter verletzt werden und letztendlich den Vertrauen in das Gesundheitssystem verlieren).
Zusammenfassend muss festgehalten werden, dass sich Machtlosigkeit und Frustration häufig in unethischen und unprofessionellen Verhaltensweisen niederschlägt, die mit fragwürdigem Humor und „angemessener“ Rache an „schlechten“ PatientInnen gerechtfertigt und salonfähig gemacht werden.
Dieser Artikel ist ursprünglich auf dem Blog Medical Ethics erschienen und wurde von uns mit Einverständnis des Autors Aidan Baron (Twitter: @Aidan_Baron) frei übersetzt. Aidan ist Medizinstudent, Paramedic und Researcher in Australien, sein Forschungsgebiet liegt rund um Point-of-Care Ultraschall und LGBTQ Menschen im Gesundheitswesen.
Kommentar:
Hand aufs Herz: Jeder weiß worum es hier geht und hat mindestens eine Situation erlebt, in der KollegInnen aller Ausbildungsstände irgendeine Form von unangemessener Gewalt gegenüber den ihnen Anvertrauten ausgeübt haben. Wenn ich in meinen Erfahrungen rum krame, bleibt es nicht nur bei einer Erwähnung: Da ist der fahrzeugführende Rettungssanitäter, der völlig verängstigte Angehörige nicht auf dem Beifahrersitz mitnehmen möchte, „weil das aus Versicherungsgründen nicht geht“. Der Rettungsassistent, der nach mehreren verbalen Entgleisungen gegenüber Bystandern dem alkoholintoxikierten Jugendlichen mit großlumigen Kanülen zuleibe rückt. Der andere Rettungsassistent, der ein 12-Kanal-EKG bei einer symptomlosen Teenagerin für angemessen hält. Die Notfallsanitäterin, die bewusst und grundlos ihre Schweigepflicht gegenüber der Polizei bricht. Der Notarzt, der eine Übergabe mit einem lapidaren „geh mir aus der Sonne“ quittiert. Pflegekräfte, die ihnen zugeteilte Praktikanten standhaft ignorieren. Die Liste könnte noch weitergehen, und von unangemessenen Witzen möchte ich gar nicht anfangen.
Die Gründe – Frustration, Rassismus, Sexismus, etc. – sind mannigfaltig und wurden von Aidan schon eingehend angesprochen. Ich würde noch hinzufügen, dass die Personalauswahl und die Prüfung auf charakterliche Eignung einen deutlich höheren Stellenwert verdienen – und zwar nicht nur bei der Einstellung, sondern auch im Verlauf der Karriere. Zudem muss mehr Augenmerk auf die psychische Gesundheit von MitarbeiterInnen gelegt werden. Weiterhin ist der Spruch „Im Rettungswagen hört dich niemand schreien“ unglücklicherweise gar nicht so weit hergeholt: als mehr oder weniger unabhängige Teams ohne regelmäßige stattfindende Supervision, ist bei Fehlverhalten im Rettungsdienst kaum eine Konsequenz zu erwarten. Beschwerden verlaufen bei eklatantem Personalmangel oder höherer Ausbildung des Beklagten häufig im Sand, und gelegentlich finden sich Konstellationen, in denen sich Teammitglieder gegenseitig decken.
Was hilft nun? Ich habe für mich festgestellt, dass eine direkte und unmittelbare Ansprache, wenn nötig in Hörweite des Patienten/der Angehörigen/usw., in konsequenter und wertungsfreier Wortwahl als direkte Maßnahme helfen kann. Im Zweifel lassen sich noch rechtliche Grundlagen und medizinisches Fachwissen anbringen, um nachhaltig zu argumentieren und zum Umdenken beizutragen. Ein emotionaler Überbau und der Versuch, sich in die Situation des „Opfers“ hineinzuversetzen, macht eine retrospektive Aufarbeitung eventuell nachhaltiger. Trotzdem: bei gravierenden Eingriffen in die Rechte anderer, eventuell mit strafrechtlicher Relevanz, muss Meldung an Vorgesetzte oder im Extremfall sogar an Behörden erfolgen.
Und zu guter Letzt denke ich, dass ein Funken gesunder Stolz, Arbeitsethos, kontinuierliche Selbstreflektion und Würde (diesmal die eigene) uns vor solchen Ausfällen schützen.
 
 

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5 Kommentare

  1. Vielen Dank Für Artikel und Kommentar ich finde das ganz wichtig diese Problematik immer und immer wieder zu Thematisieren.Ich könnte genauso viel Beispiele bringen die ich Täglich bei meiner Arbeit erlebe . Beide haben mir aus dem Herz gesprochen , Weiter so .
    Rainer Scheerer

  2. Der Punkt ist mir leider bei dem ein oder anderen meiner Kollegen schon aufgefallen. Insbesondere, bei den Rettungssanitäter/innen, die nie etwas anderes gelernt haben. FSJ / Zivi gemacht und hängen geblieben. Interesse am Beruf eher spärlich (keine Motivation an Fort-/Weiterbildung oder an den nicht per-akuten Fällen)…
    Gerade hier ist es mir selbst schon aufgefallen und ich habe das auch schon wie folgt in meiner Laienpsychologie versucht zu erklären:
    Die Defintion und Aufwertung des eigenen Ichs durch gezielte Macht Demonstration gegenüber den eben schwächeren Patienten.
    Das Problem würde ich hier insbesondere darin sehen, das sie sich selbst als nicht besonders erfolgreich im Berufsleben / Erwachsen-sein sehen.
    Wie gesagt mir ist dies vor allem bei >25J, RS sowie keine sonstige Berufsausbildung aufgefallen…

  3. Inhaltlich unterstütze ich den Beitrag vollständig. Nur das Beispiel „Da ist der fahrzeugführende Rettungssanitäter, der völlig verängstigte Angehörige nicht auf dem Beifahrersitz mitnehmen möchte, „weil das aus Versicherungsgründen nicht geht“.“ finde ich schwierig. Warum? Weil ich genau dafür eine Abmahnung bekommen habe.
    Und da stellt sich mir dann in Folge die Frage, wieviel Menschlichkeit und Empathie die Arbeit in einem modernen Gesundheitswesen noch zulässt. In den knapp 8 Jahren Präklinik und jetzt Klinik habe ich, für meinen Geschmack zu viele, Leute gesehen, die von motivierten, interessierten und hingebungsvollen Auszubildenden/Studierenden zu zynischen, frustrierten und ausgelaugten ‚Profis‘ mutierten. Und ich kann es verstehen, weil ich selber merke, wie schwer es sein kann, nicht so zu werden.

  4. Ein wirklich sehr wertvoller Artikel. Ich finde diese Themen werden viel zu selten im (z.b Klinik) Alltag besprochen. Ich beobachte in letzter Zeit sowieso wie gefährlich es ist wenn man ein Machtgefälle zur Aufwertung seines eigen Egos ausnutzt. Etwas was mir in bleibender Erinnerung geblieben ist war ein, ich glaube SDL“er der damit angegeben hat das er einem Patienten das Shirt vor den Mund gehalten hat damit er in seine eigene Kleidung erbricht und nicht in den RTW. Mich hat diese Selbstgerechte und Egoistische Einstellung sehr schockiert. Aber

  5. Als Patient ist man solchen Leuten hilflos ausgeliefert. Kam am 1 Mai in das KH Lörrach,in Notarztbegleitung>akutes Abdomen.Wurde nach kurzer Untersuchung mit hochgezogenen Bettgittern in einem Raum abgestellt,konnte es jedoch auf Grund der immer massiver werdenden Krämpfe auf der Liege nicht aushalten.Erst nach mehrmaligem Klingeln wurden die Bettgitter gesenkt. Einen Stuhl verweigerte die PK,ich hätte auf der Liege zu bleiben.Krümmte mich in die Knie gehend an der Liege,Über Stunden hinweg erfolgte keine Schmerz lindernden Massnahmen .Immerhin hat mir die Begleitperson meiner Zimmernachbarin einen Stuhl geholt.Das Personal stauchte mich wütend zusammen,weil ich in meiner Not immer wieder geklingelt habe. Hysterisch wäre ich u. mit meiner Bewegungsunruhe selbst schuld,das die Paracetamol Infusion nicht wirkt.Ich war in Schweiss gebadet u. hatte Todesangst.Ich habe über Flucht nachgedacht,aber die nächste Klinik ist 20 km entfernt.Ich hätte es aber wohl nicht bis zum Ausgang der Klinik geschafft ,in meinem Zustand.
    Ich schrie und bettelte um Hilfe,aber es ist nichts passiert.
    Eine Diagnostik fand die ganze Nacht nicht statt.
    Diagnose am nächsten Tag:Eitrige Cholangitis bei Choledocholitiasis
    perforierte Cholezystitis bei Zystolitiasis mit Gb.Emphyem u. Ausbildung eines Leberabzesses in den der GB benachbarten Lebersegmente.
    Die Ärztin meinte,ich wäre ihr in der Nacht irgendwie durchs Raster gefallen,es tue ihr leid.Sie habe nicht gewusst,wie schlecht es mir gegangen ist,die Schwestern hätten nichts gesagt.
    Nach ERCP u. Antibiose u. besserem AZ die Klinik sofort verlassen habe.
    Habe Anzeige gegen die Klinik gestellt.>Unterlassene Hilfeleistung,Körperverletzung>
    Was mir dort passiert ist,war pure Gewalt.
    Die Klinik schrieb mir nun folgendes :Schmerzgeplagt wäre ich nicht mehr Herr meiner Sinne gewesen.
    Man habe weder die Bettgitter hochgezogen,noch mir einen Stuhl verweigert.Im Gegenteil: Ich hätte vehement darauf bestanden,am Boden zu knien u. hätte einen Stuhl verweigert.:-)))
    Man habe mir sogar eine Matratze angeboten:-)))
    In dem Tenor geht der Brief weiter.Es ist bedrückend.
    Von Fehlerkultur kein Hauch,stattdessen Opferblaming. Man hat nicht vor,dieser Sache auf den Grund zu gehen.
    Bin seit 30 Jahren exam. Altenpflegerin u. kann sehr gut einschätzen,was mir dort passiert ist.Das Problem ist,das Patienten in so einer Lage völlig ausgeliefert sind u. später kaum etwas beweisen können.

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