Nach dem letzten Ereignis mit Todesfolge, das wir als Crew nur per Funk mitbekamen, war die Stimmung etwas gedrückt. Man konnte spüren, wie sehr alle sensibilisiert waren und noch mehr als sonst auf Sicherheit achteten, insbesondere gegenseitig. Allein eine Welle, die das Deck überspült oder ein falscher Schritt kann nachts dazu führen, dass man über Bord fällt und im Getöse des Atlantiks landet. Chancen auf Rettung: schlecht, zumal man als Wachhabender alleine an Deck ist und die anderen (schlafend in der Koje) erstmal mitbekommen müssen, dass man schwimmen gegangen ist. Doch kommen wir zu Teil 2:

Tag 6 | Kap Verden im Rücken, viel Wasser vor uns
Eine Mitseglerin, die schon seit Las Palmas produktiv grünlich hustet und deswegen dort bei einer niedergelassenen Ärztin war, geht es zunehmend schlechter. Auf die Frage, ob sie die verordneten Medikamente (Azithromycin, Prednisolon, Cetirizin, spanisches Mucosolvan) genommen hat, erläutert sie, dass sie nach Blick auf die Beipackzettel das Azithromycin nach 3 Tagen abgesetzt und den Rest gar nicht erst genommen habe. Der Husten besteht nun seit ca 4 Wochen und jetzt kommt leichte AZ-Verschlechterung und erhöhte Temperatur hinzu. In Zusammenschau mit der aktuellen Situation und dem erfahrenen Lebensalter der Patientin bekommt sie unter der Verdachtsdiagnose Pneumonie eine antibiotische Abdeckung und ein Stoßgebet von mir, dass das Azithromycin noch wirkt, denn das ist leider Ende der Fahnenstange meiner antibiotischen Bordapotheke.
Tag 7 | Medizinischer Point of no return
Wir haben zwar noch nicht die Hälfte der Strecke erreicht, sondern bislang nur ein Drittel. Aber meine persönliche Entscheidungshöhe ist nun erreicht. Die Entscheidungshöhe, oder englisch „Minimums“, bezeichnet in der Luftfahrt während des Landeanflugs den Punkt, bis zu welchem ein Durchstarten und Abbruch der Landung sicher möglich ist. Auf unserer Strecke haben wir Wind und Welle stetig von (Nord-)Ost. Falls ab jetzt etwas an Bord passiert, weswegen wir schnellstmöglich Land ansteuern müssen, wäre es schneller, den eigentlich längeren Weg Richtung Westen mit Wind im Rücken fortzuführen, im Gegensatz zur kürzeren Strecke nach Osten, für die wir allerdings bei Wind und Welle gegen unsere Fahrtrichtung deutlich länger brauchen. Es wären jedenfalls nur ca 10 Tage bis zum nächsten Festland mit Motorsegeln. Ich feiere das und genehmige mir einen der letzten guten Äpfel. Obst ist ein kostbares Gut, mitten auf dem Atlantik.

Tag 13 | Rippen kaputt?
Es gibt gute und schlechte Nachrichten. Erstens, der Pneumonie-Patientin geht es besser, sie nimmt auch das Antibiotikum regelmäßig ein. Zweitens, ein anderes Besatzungsmitglied wurde in der Nacht bei ordentlich Wind und einer unglücklichen Verkettung von Umständen von einer Vorsegelschot (Spinnaker) mit Wucht zur Seite geschleudert und hat mit den Rippen auf einer Treppenstufe gebremst. In der ersten körperlichen Untersuchung zeigen sich keine sicheren Frakturzeichen, subkutanes Emphysem oder ein anderer Grund zur Sorge, es tut aber alles weh bei Bewegung und beim Atmen. Eine Rippenfraktur kann ich nicht sicher ausschließen und so wird körperliche Schonung und Atemgymnastik angeordnet. Novalgin plus Ibu 400 mg (analgetischer Ceilingeffekt!) zur Nacht reichen zur Analgesie aus und bringen das Schmerzlevel von NRS 05/10 auf eine vertretbare 1-2.
Tag 14 | Nur Flüchtigkeitsfehler
Ein anderes Crewmitglied hat in den vergangenen Tagen besonderes Aufsehen erregt, denn immer wieder zeigten sich in stressigen Situationen Flüchtigkeitsfehler – von der Segeleinstellung und Navigation bis hin zu sicherheitsrelevanten Vorkommnissen wie offen gelassenen Gashähnen oder falscher Bedienung der Maschine und des Autopiloten, die zu Schäden hätten führen können, wenn nicht durch andere Crewmitglieder interveniert worden wäre. Ich suche das Gespräch und merke währenddessen, dass ich noch keinen richtigen Zugang zur besagten Person finde. Wir erarbeiten gemeinsam einen Plan, wie die Vorkommnisse in Zukunft am besten vermieden werden können, was mit Dankbarkeit angenommen wird. Kurze Zeit später passieren wir ein Ruderboot(!) in wenigen Meilen Entfernung und tauschen uns ein wenig per Funk aus. Sie sind Teil einer Transatlantik-Regatta von Ruderbooten. Ruderbooten! Mitten auf dem Atlantik! Zwei Personen drauf! Und ich dachte, ich bin cool auf nem Segelboot. Naja, meinen ganzen Respekt haben sie.
Tag 15 | Psychiatrischer Notfall
Nach weiteren sicherheitsrelevanten Fehlern des in Tag 14 genannten Besatzungsmitglieds, ruft mich der Kapitän zu sich und sagt mir, dass das Crewmitglied mit sofortiger Wirkung vom Wachdienst ausgeschlossen wird. Er schreibt bereits eine neue „watch-schedule“, auf der die Wachführer eingetragen sind, um hierfür zu kompensieren. Heißt für alle anderen: Paar Stunden mehr Wache pro Tag, paar Stunden weniger Schlaf. Die Amerikaner auf dem Boot nennen mich hierbei liebevoll „Dr. J“, das soll wohl ein cooler Basketballer aus vergangenen Jahrzehnten gewesen sein.

Im Gespräch danach dekompensierte besagtes Crewmitglied leider komplett und sprach mehr zu sich selbst als zu den anderen, dass er jetzt sofort von Bord gehen würde, 1000 Seemeilen von jeglichem Festland entfernt. Er war dabei keineswegs mehr zugänglich, wirkte wahnhaft und verschwand in seiner Koje, aus der wir laute Geräusche hörten. In der Vorgeschichte bestand eine psychiatrische Vorerkrankung mit Dauermedikation (wie ich erst jetzt erfahre), die eigenständig vor 4 Wochen abgesetzt worden war, da „ich die Medikamente beim Segeln nie brauche“. Leider handelte es sich bei den gemeinten Segeltörns bislang nur um Tagestrips und bei der antipsychotischen Medikation um ein Präparat zur Dauertherapie. Tausend Seemeilen vor der Küste, provoziert durch enge Raumverhältnisse, Schlafmangel, eingeschränktes Essen, soziale Konflikte, etcpp, was eine Atlantiküberquerung nun Mal mit sich bringen kann, kippt nun die Stimmung und es kommt zu einem psychotischen Schub.
Zu meiner Therapie gibt es nicht viel zu sagen, denn ich habe von Psychotherapie herzlich wenig Ahnung und davon könnte wohl keiner der Lesenden profitieren. Doch die paar Monate freiwilliges Praktikum bei einem niedergelassenen Verhaltenstherapeuten mit Schwerpunkten „Angststörungen / ADHS“ halfen wohl (ich wäre sonst völlig aufgeschmissen gewesen). Deshalb nur so viel: Aktives Zuhören, sokratischer Dialog und mildes Expositionstraining über ein paar Tage unter Einbindung bzw. Briefing der anderen Crewmitglieder zur Situation führten dazu, dass ich die anfangs aufgezogene i.m. – Spritze mit Ketanest wieder verwerfen konnte. Das war kein Spaß, denn der Patient war zu Beginn eigengefährdet wie es im Buche steht. Die Besserung seines Zustands sorgte für allgemeines Aufatmen und auch ich konnte wieder besser schlafen – nein, das Ketanest habe ich dafür nicht zweckentfremdet.
“Besser Schlafen” ist hierbei relativ, denn ich wurde nachts oft auf dem Bett liegend durch die Wellen von einer Wand gegen die andere geschleudert. Ein weiterer Garant für Durchschlafprobleme waren die kurzweiligen süßen Momente, in denen der rechte Auftriebskörper des Trimarans (mit meiner Koje darin) in die Luft katapultiert wurde, um dann mit einem Krachen von 1000 Krankenhausbett-Feststell-Geräuschen wieder aufs Wasser zu klatschen. Die Kombination aus Explosionsgeräusch mit nachfolgendem Tinnitus im Ohr und dem Gefühl von freiem Fall konnten auch bei extremer Müdigkeit kostbaren Schlaf effektiv verhindern.

Tag 18 | Ankunft in der Karibik
Land in Sicht! Mit einem bittersüßen Beigeschmack nahmen wir die ersten Inselformationen am Horizont war. Seglerisch ist auch viel passiert, unter anderem hatten wir unterwegs Wassereinbruch im Maschinenraum und es ist eines unserer Segel gerissen. Nach Gesprächen mit anderen Bootscrews liegen wir mit nur einem kaputten Segel aber noch deutlich unter dem Durchschnitt… 18 Tage gehen also zu Ende, doch ich setze meine Reise als Hitchhiker von Segelboot zu Segelboot und Insel zu Insel in der Karibik fort. Davon gibt’s auch die ein oder andere Geschichte, aber das hier ist ja ein medizinischer Blog, also spulen wir vor zum wohl heftigsten medizinischen Notfall, den ich in den Monaten erlebt habe.
Wie es auf der Atlantikroute zurück Richtung Europa weiterging, erfahrt ihr in Teil 3 von 3.
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Wie immer gilt: Der Einzelfall entscheidet. Der Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit und die genannten Empfehlungen sind ohne Gewähr. Die Verantwortung liegt bei den Behandelnden. Der Text stellt die Position des Autors dar und nicht unbedingt die etablierte Meinung und/oder Meinung von dasFOAM. Die meisten Ereignisse sind so wie im Text beschrieben nie passiert, denn sie wurden vom Autor deutlich abgewandelt und Details zu Personen und Medizin miteinander vermischt, damit sich niemand in den Logbucheinträgen wiedererkennt.