5000 Seemeilen als Schiffsarzt – Auszüge aus dem Logbuch, Teil 3

“Die See ist nicht dein Freund, die See ist nicht dein Feind.
Die See ist einfach nur da. und macht, was sie will.”
- erfahrener Kapitän, irgendwo auf dem nordatlantik

Weiter geht es mit dem Erfahrungsbericht aus 5000 Seemeilen als Mediziner an Bord von Segelschiffen und der Strecke zwischen den Azoren und Europa. Teil 3:

Blick auf Vulkanseen auf den Azoren. Aufgenommen von einem Berggipfel aus der Suite eines verlassenen Hotels heraus. #lostplace

Tag 69 (ungefähr) | Ankunft auf den Azoren und Ablegen nach Europa

Wie dem aufmerksamen Lesenden aufgefallen ist, habe ich nun mehrere Tage in meinen Logbucheinträgen übersprungen. Nach sehnsüchtiger Erwartung liegt es nun endlich vor mir, das riesige Segelschiff für die Rückreise nach Europa, im abgeschotteten Teil vom Hafen. 37 Mann und Frau Besatzung werden für mich eine ungewohnt große Verantwortung darstellen. Immerhin hat ein Schiff dieser Größe eine entsprechend gut bestückte Bordapotheke im eigenen Lazarett-Raum mit allem, was das Herz begehrt (naja, fast, wie sich später herausstellen wird). Was ich nicht wusste: Es ist zufällig noch ein junges Ärztepaar mit an Bord, sie kennen auch das Schiff gut, also werde ich schon nix zu tun haben. Denk ich mir.

Tag 73 | Sturz mit Folgen

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie eine große Welle das Schiff erfasst und der 2. Steuermann Herbert „Haltet-euch-immer-gut-fest“ Holzmüller direkt neben mir von der Brücke strauchelnd mehrere Treppenstufen überspringt, um nach 3 Metern mit dem Thorax auf der Reling zu landen und danach mit dem Kopf aufzuknallen.

Was ich hätte tun sollen: Präklinisches Traumaschema abspulen, wie ich’s im PHTLS gelernt und auf der Straße praktiziert habe.

Was ich in dieser neuen Umgebung „Schiff“ und ohne leucht-rote Hose an den Beinen gemacht habe: Vor den japsenden Herbert hingekniet und 3-mal gefragt „Jo, alles gut bei dir?“, bis auch der letzte Schulsanitäter verstanden hätte, dass Herbert gerade absolut keine Luft bekommt.

Also den etwas benommenen Herbert zu zweit stabilisiert, vorsichtig hingelegt und Primary Assessment abgespult, wobei die See regelmäßig Wellen übers Deck spülte und mein Gehirn mir schadenfroh ein neues „S“ in mein „Scene, Safety, Situation, See“ dichtete. Hierbei durfte ich erster Hand und zu meinem Erstaunen feststellen, dass meine ultracoole wasserdichte Segelkleidung unten an den Hosenbeinen offen war, wodurch im Knien das Salzwasser bis auf Oberschenkelhöhe gedrückt werden konnte. Einfach herrlich, die Kraft der Natur!

Ultracoole wasserdichte Segelkleidung, unten offen, Symbolbild (anderes Schiff)

Also:

  • A: Atemweg frei, HWS wird vom Patienten selbst kontrolliert, dort keine Schmerzen.
  • B: Tachydyspnoe, starke Thoraxschmerzen, subkutanes Emphysem über Bülau links ohne Hautdefekt.
  • C: Tachykarder, regelmäßiger, gut tastbarer Radialispuls. Sonstige Blutungsräume opB. Rekap peripher 3 s, aber ist auch kalt draußen, zentral 1 Sekunde.
  • D: DMS überall intakt, GCS 14 (E3 V5 M6)

Das subkutane Emphysem über dem linken Thorax verrät mir nun zwei Dinge, nachdem Herbert mir versicherte, dass es nicht schon vorher da war:

  1. Da sind Rippen gebrochen (nach Traumakinematik wohl eine Rippenserienfraktur)
  2. Die Rippen haben in die Lunge gepiekst und nen Pneumothorax verursacht.
  3. (ich wünsche mir Ultraschall, um das Ausmaß des Pneus und Begleitverletzungen beurteilen zu können)

Das subkutane Emphysem ist übrigens der spezifischste Befund für einen Pneu in der körperlichen Untersuchung. Nebenbei bemerkt: Mein Drang, jedem potenziell kritischen Traumapatienten 15l Sauerstoff auf die Nase zu drücken, wurde recht schnell von der Erinnerung unterdrückt, dass es auf dem ganzen Schiff nur eine 2l Flasche dieser Spezialluft gibt, was uns eine knappe halbe Stunde lang geholfen hätte.

Nach kurzer Zeit stabilisiert sich der Zustand aber und es werden die ersten Pläne geschmiedet. Auf die Erstversorgung des Patienten folgt ein Gespräch mit der Schiffsführung, in dem sich auf eine Kursänderung zum nächstgelegenen Hafen geeinigt wird, der 2-3 Tage entfernt liegt. Da wir fernab jeglicher Helikopterreichweiten sind, gibt es als Notfallplan nur die Möglichkeit, eine Marinefregatte in der Nähe um Hilfe zu bitten und sonst ein Rettungsboot vom Festland anzufordern.

Funkplatz an Bord, von wo aus wir in ständigem Kontakt mit Festlandstationen sind.

Bei fehlendem Thoraxdrainageset ist das wohl beste verfügbare Rohr für eine Thoraxdrainagenanlage der orange Absaugkatheter ausm Rucksack, der meinen Schätzungen nach aber beim ersten kleinen Blutkoagel aufgeben wird. Einen Endotrachealtubus gibt’s leider nicht an Bord und so schaue ich kurz den roten Larynxtubus skeptisch an, der guckt entsetzt zurück, also verwerfe ich die Idee dann wieder schnell. Im Endeffekt habe ich mich auf den Absaugkatheter geeinigt.

Fun Fact: Der mittlere Abstand zwischen Rippen beträgt beim Erwachsenen ca. 9 mm, wobei schon 28 Fr Thoraxdrainagen dicker sind und somit - jedenfalls theoretisch - das neurovaskuläre Bündel entlang der Rippen komprimieren und starke Schmerzen verursachen können.

Bei deutlich limitierten Möglichkeiten zur Analgesie und mehreren Tagen bis zu definitiver Versorgung, würde ich also auf dem Schiff eher den kleinen Schlauch nehmen (ggf. nach anterior statt posterior legen war auch noch ein Gedanke in meinem Kopf, aber ohne jeglichen Evidenzhintergrund).

Fun Fact 2: Auch die aktuellste Evidenz tendiert in Richtung kleiner statt größer, heißt konkret 20 Fr oder 14 Fr Pigtail. Mit dem orangen Absaugkatheter (16 Fr) liegt man gut dazwischen. Was nun bei größerem Hämatothoraxanteil? In einer RCT wurde auch für traumatischen Hämatothorax gezeigt, dass zwischen 14 Fr Pigtail und 28-32 Fr Schläuchen die Versagensrate ähnlich ist. Hätte ich ehrlich gesagt nicht gedacht. Cave: Evidenz gilt nicht bei hämodynamischer Instabilität [Kulvatunyou 2014, Kulvatunyou 2021].

Am Abend, bevor ich ins Bett gehe, spiele ich noch einmal im Kopf durch, wie eine Thoraxdrainagenanlage im Notfall hier auf dem Schiff wohl am besten vonstattengehen würde. Vor allem: Wo hat man hier um Himmels willen ein bisschen Platz?? Meine Lösung ist der Boden des oberen Flurs am Abgang zur Treppe runter in die Messe, damit ich mit Kopflampe auf den Treppenstufen hocken kann und der Thorax auf Arbeitshöhe ist. Dabei bin ich sehr froh über meine gesammelten Erfahrungen aus ein paar Monaten Johannesburger Notaufnahme, sodass ich das Gefühl habe, einer entsprechenden Situation auch hier auf dem Nordatlantik gut begegnen zu können. Natürlich möchte ich es aber vermeiden, wenn irgendwie möglich, in der Umgebung dieses Schiffes mit unzureichendem Material und ggf. mehreren Tagen bis zu definitiver Versorgung eine derartige chirurgische Intervention durchzuführen.

In der Nacht träume ich schließlich eine wilde Mischung aus stockdunklem Johannesburger Schockraum (Stromausfall), der sich nun schwankend auf unserem Schiff befindet, Herbert mit Spannungspneu und wie ich mir während der Thorakostomie den Finger an einer der gebrochenen Rippen aufreiße. Ich wache dadurch auf und merke, dass ich gerade kurz davor bin, aus meiner oberen Koje (Stockbetten) zu fallen. Nochmal gut gegangen. Doch es soll kommen wie so oft in der Medizin: Wenn man sich im Vorhinein Gedanken macht und einen Plan schmiedet zu einer schwierigen Situation, dann tritt diese nicht ein.

Im weiteren Verlauf lassen sich die Schmerzen gut mit NSAR einstellen. Leider gibt es für Schmerzspitzen keine oralen Opiatmedikamente in der Bordapotheke und es bleibt nur die Gabe von s.c. Morphin. Da der Patient schon 70 Jahre alt ist, entscheiden wir uns auch für regelmäßiges Atemtraining bzw. Physiotherapie, die ich bewusst schonend durchführe, um nicht noch mehr Luft in den Pleuraspalt zu ziehen (Evidenzgrad dieser Taktik: 0,0). Regelmäßige Vitalparameterkontrollen und „Visiten“ ergeben keinen Grund zur Sorge. Im Endeffekt kommen wir bereits nach 1,5 Tagen am Festland an und es geht ab ins Krankenhaus. Froh, wieder Land unter den Füßen zu haben, telefoniere ich mit Freunden in der Karibik, wonach ich jetzt weiß, warum Kondome und die „Pille danach“ in jede größere Bordapotheke gehören sollten (Mike hatte also Recht). Doch zu dieser Geschichte kommen wir ein anderes Mal…

Dinge, die ich nach 5.000 Seemeilen für mich mitnehme / Fazit / Lessons Learned:

  1. Immer gut festhalten.
  2. Keine halben Sachen, egal in welchem Umfeld. Jede:r verdient eine gründliche körperliche Untersuchung, Anamnese, Therapie. Egal, ob im Klinikdienst, bei einer Familienfeier oder auf dem Mount Everest. Auch ohne Kasack oder Rettungsdienstjacke am Körper stets bereit sein, umzuschalten in den “professional”-Modus.
  3. Keine halben Sachen Part 2: Wenn ich in meiner Ausbildung und Funktion als Arzt an Bord gehe, dann ernst nehmen und entsprechend vorbereiten. Dazu gehört auch, medizinische Infos von allen Crewmitgliedern bei einem 4-Augen-Gespräch im Vorhinein einzuholen und auf Vollständigkeit zu bestehen(!).
  4. Wenn noch andere Kolleg:innen im gleichen Patientenfall involviert sind: Eine gesamtverantwortliche Person  benennen! Das hilft (nicht nur im Schockraum), eine schlechtere Versorgung durch “hat bestimmt schon jemand anders im Blick” - Denken zu vermeiden.
  5. Man kann immer nur zu wenig Scopolaminpflaster dabei haben.
  6. Alles, was schief gehen kann, wird schief gehen (Murphy). Vorbereitung hilft, oder auch: Proper  preparation prevents piss-poor performance.
  7. Notfälle sind nicht nur internistischer oder chirurgischer Natur. Von allen Fällen auf dem Wasser habe ich am meisten geschwitzt, als ich dem psychotischen Patienten gegenüber saß und mich völlig unvorbereitet fühlte. Heißt für mich: Weiter fortbilden zu psychiatrischen Notfällen!
  8. Kondome benutzen.
 

P.S. Herbert ist per Reiserückholtransport inzwischen wieder in Deutschland angekommen und befindet sich auf dem Wege der Besserung.

Der Artikel darf im Sinne von #FOAMed ausdrücklich gerne studiert und zitiert, geteilt und verteilt, ausgedruckt und ausgelegt, geknickt und verschickt werden.
Wie immer gilt: Der Einzelfall entscheidet. Der Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit und die genannten Empfehlungen sind ohne Gewähr. Die Verantwortung liegt bei den Behandelnden. Der Text stellt die Position des Autors dar und nicht unbedingt die etablierte Meinung und/oder Meinung von dasFOAM. Die meisten Ereignisse sind so wie im Text beschrieben nie passiert, denn sie wurden vom Autor deutlich abgewandelt und Details zu Personen und Medizin miteinander vermischt, damit sich niemand in den Logbucheinträgen wiedererkennt.

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3 Kommentare

  1. Hi JuWo, danke für den Bericht. Ich bin auf dem gleichen Grosssegler (die Navi hab ich erkannt) unterwegs, seit ich mit Zn nach schriftlichem Stex mit 0 praktischer Erfahrung dort angeheuert hab und zum Ersthelfer (der mit der weitesten med. Erfahrung) erkoren wurde. Zugegeben fehlt mir das traumatologische KnowHow als Internistin immer noch. Jetzt weiss ich, was ich noch zu tun hab, bevor ich mit übern Atlantik segeln möchte….

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