Hyperventilation – ein Teil der langweiligen 99%

Ganz ehrlich? Klar sind die Blaulichteinsätze mit erfolgreicher Reanimation oder die lebend in den OP gebrachte Aortendissektion im Alltag großartige Sachen und Dinge, die am Ende des Tages im Gedächtnis haften bleiben. Aber wenn ich mich realistisch umschaue und es kritisch betrachte, mache ich den lieben langen Tag in der Notaufnahme doch was ganz anderes. Nämlich die langweiligen 99%: Grippe seit drei Tagen und der Hausarzt hat zu, oder die demente, ältere Dame, die aus dem Bett gefallen ist.
Und das mache ich – persönlich – gerne. Klar, damit kann man nicht im Freundeskreis prahlen oder große akademische Lorbeeren verdienen. Aber es ist unser Alltag und darin können wir in kleinen Schritten für unsere Patienten einen großen Unterschied machen.
Eines dieser Dinge, die kaum einen interessieren und womit sich allenfalls ein Bruchteil unserer Kollegen ernsthaft beschäftigt, ist die Hyperventilation. Um genau zu sein heißt es Hyperventilationssyndrom. Ich persönlich kenne keinen Kurs oder Vorlesung, wo das tatsächlich evidenzbasiert vorkommt – auch wenn ich von Kollegen höre, dass es durchaus gelehrt wird. Aber es vergeht kein Tag, an dem ich nicht einen oder gleich mehrere Patienten davon in der Notaufnahme oder im Notarzt – Einsatz sehe.
Aber die Therapie ist doch ganz einfach? Tüte, Tavor, tippitoppi.
Nicht ganz.
Die Rückatmung in eine Tüte, das klassische „brown paper bag“, wird schon mindestens seit 1951 angewendet, ist aber schon seit Ende der 80er obsolet. Gerade bei Patienten mit einem internistischen Grundleiden lebensgefährlich, dazu gibt es einige Fallberichte mit fatalem Ausgang. Zumal es kaum zu steuern ist, und wieder eine Hypoxie auslösen kann.
Und Evidenz für Benzos? Nada.
Wird in schweren Fällen in der Literatur empfohlen (z.B. auf uptodate.com), wenn eine Beruhigung und eine ausführliche Aufklärung nicht hilft. Aber es gibt keine Evidenz (!) dafür, geschweige denn einen tatsächlichen Wirknachweis. Ist ähnlich wie die akute Blutdrucksenkung bei der „hypertensiven Krise“. Hat keine Konsequenz für den Patienten, außer dass ich ihn auf seine Benzos fixiere.
Können wir dann überhaupt was tun? Natürlich, aber das erfordert Empathie und Geduld.
Wir wissen wenig über das Hyperventilationssyndrom und das Wenige ist nicht unumstritten. Aber wir wissen zumindest, dass es keine Erkrankung im klassischen Sinne ist, sondern eine Stressreaktion auf einen Panik-Stimulus. Auslöser kann fast alles sein, und es trifft nicht nur Frauen oder Patienten mit Panikstörung. Wenn man richtig hinschaut, kann es jeden treffen: Ich hatte einen toughen, nie um einen Scherz verlegenen, groß gebauten Kollegen, der mich nach einem Fahrradsturz mit großen Augen anschaute und hechelnd fragte was los sei, er verstünde nicht was hier passiere.
Und wenn wir hier anpacken, nämlich daran, dass es sich um eine Stress- und Panikreaktion handelt, wissen wir schon, was wir tun müssen. Patienten beruhigen, erklären was vor sich geht, Gegenmaßnahmen erläutern und sie bekräftigen, dass ihnen fast garantiert nichts passieren kann. Und das ist eine Info, die wir in der Medizin echt selten geben können*. Empathie, Respekt und Verständnis dem Patienten gegenüber sollten eigentlich selbstverständlich sein, fallen aber sicher nicht immer jedem leicht, gerade bei vermeintlich harmlosen Sachen.
Gegenmaßnahmen sollten auf eine Selbstregulation der Atmung fokussieren sowie auf ein selbständiges Durchbrechen der Symptomatik – dann können die Patienten es in Zukunft auch selbst und müssen nicht für ein Benzo und eine Tüte den Notarzt rufen. Wir können die Patienten dazu anhalten sich auf die Ausatmung zu konzentrieren, durch die Nase zu atmen, sowie zwischen den Atemzügen zu zählen oder auch eine Kapnographie im Sinne eines Biofeedbacks anwenden. Wichtig: dabei Ruhe und Vertrauen ausstrahlen, auch wenn es einem manchmal echt schwer fällt. Die Patienten werden nach einiger Zeit von selbst merken, dass es besser wird und sie die Situation selbst kontrollieren können.
Wie aber kann ich mir überhaupt sicher sein, dass es sich um ein Hyperventilationssyndrom handelt? Letztendlich bleibt es eine klinische Diagnose und Voraussetzung ist, dass ich mir Gedanken zu den Differentialdiagnosen und zur Genese gemacht habe (metabolische, pulmonale oder kardiale Genese, um nur ein paar zu nennen). Wenn ich das evaluiert habe und eine Kombination von typischen Symptomen habe, kann ich mir schon mal relativ sicher sein, in welche Richtung es geht.
Typische Symptome sind üblicherweise

  • Luftnot bei meist guter Sättigung (Achtung, periphere Durchblutung bei kalten Akren häufig sehr schlecht mit falscher Messung)
  • Schwindel
  • Angstgefühl bis zur Panik
  • Druck im Kopf, Benommenheit
  • Kribbelparästhesien in den Extremitäten und perioral, teilweise auch einseitig
  • Palpitationen
  • und der Klassiker, der aber selten ist: die Pfötchenstellung

Hilfreich in der Klinik ist eine venöse BGA (und mehr apparative Diagnostik brauche ich auch nicht), in der man häufig eine respiratorische Alkalose mit bereits venös erniedrigtem CO2 findet. Nicht wundern, das macht häufig auch eine relevante Laktat-Erhöhung, diese ist aber harmlos. Zur venösen BGA sei auch auf den exzellenten EMRAP-Podcast von Tobias Becker verwiesen (Dezember 2016)!
Zusammengefasst: das Hyperventilationssyndrom ist ein viel zu wenig untersuchtes und sehr häufiges, aber unterdiagnostiziertes und praktisch immer falsch behandeltes Krankheitsbild. Also: weg mit Benzo und Tüte, redet dafür lieber mit euren Patienten, auch wenn es länger dauert, und nehmt sie in ihrem Beschwerdebild ernst!
 
*es gibt Einzelfallberichte von post-Hyperventilations-Apnoe, die aber mit Zwischenbeatmung leicht zu handlen sind, zumal die betroffenen Patienten alle Rückatmung und/oder Benzos erhalten haben.
Quellen:
http://jamanetwork.com/journals/jama/article-abstract/312555
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/27743828
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/15291416
https://www.thieme-connect.com/DOI/DOI?10.1055/s-2008-1055422
http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0196064489805153?via%3Dihub
https://www.uptodate.com/contents/hyperventilation-syndrome
 
Wie immer gilt: der Einzelfall entscheidet, die genannten Empfehlungen sind ohne Gewähr, die Verantwortung liegt bei der behandelnden Ärztin bzw. dem behandelnden Arzt. Wie alle unsere Artikel behandelt auch dieser eine notfall- bzw. akutmedizinische Situation, nicht die Versorgung auf Station oder in der Hausarztpraxis.

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6 Kommentare

  1. Von einer Pädiaterin habe ich vor kurzem eine spannende Technik gelernt: Patient in Bauchlage! Sei eine der wirksamsten Methoden für die Selbstregulierung der Atmung. Hatte leider seither keine einzige Hyperventillation mehr gesehen… 🙈

  2. Danke für diesen Beitrag! Ich kann mich erinnern an eine Mitbewohnerin, die eine Panikattacke mit ausgeprägter Hyperventilationstetanie hatte und keinen Notarzt oder Benzos wollte. Therapie bestand dann aus einer halben Stunde in den Arm nehmen und zur ruhigen Atmung anleiten. Hat gut geklappt 😉

  3. Gespräche mit Hilfe zur Selbsthilfe sind immer gut, sollten aber auch gekonnt sein, und einigen Patienten verständlich erklärt werden,… Aber die Tüte oder eine eigens teuer „entwickelte“ HVT Maske auf einem RTW sind ein wirksam eingesetztes Mittel, womit der Patient sieht und merkt das etwas passiert, und man sich kümmert, anstatt daneben zu sitzen und nur beruhigend zu reden,…
    Die Mischung machts, ein bischen Maske um den Patienten zu beschäftigen, ein paar einfache Worte und die Tüte als „Ritual“,… einmal erklärt, dass man sich damit nicht in die CO2 Narkose schießen soll (in einfach für den Patienten) und gut ist.

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