Häusliche Gewalt in der Rettungsstelle

Fall
Eine 35 jährige Frau stellt sich in der Rettungsstelle in Begleitung ihres Ehemanns vor. Sie klagt über zunehmende Schmerzen im rechten Handgelenk und dem rechten unteren Rücken nach einem Fahrradsturz am Vortag. Während der Untersuchung des Handgelenks fallen dem behandelnden Arzt alte, kaum noch sichtbare Hämatome am Handgelenk und am Unterarm auf.


Was ist eigentlich häusliche Gewalt?
Häusliche Gewalt umfasst alle Formen von Gewalt, die zwischen erwachsenen Menschen ausgeübt wird, die in einem nahen Verhältnis zueinander stehen oder standen1. In den meisten Fällen wird die Gewalt von (Ex-)Partnern ausgeübt. Die Täter sind in den meisten Fällen Männer.2
Gewalt selbst ist von der WHO definiert als „Der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physische Macht .“3
Die Gewaltform, die uns in der Rettungsstelle am offensichtlichsten begegnet, ist die physische Gewalt. Das kann von einem blauen Auge über Verbrennungen bis hin zur versuchten Tötung reichen.
Aber auch die Folgen psychischer Gewalt bringen die Menschen häufiger ins Krankenhaus als wir denken. Oft stellen sich Opfer häuslicher Gewalt mit unspezifischen Beschwerden wie Atemnot, Schwindel, gastrointestinalen Beschwerden, Kopfschmerzen etc. vor, für die nie eine körperliche Ursache gefunden wird.
Nicht zu vergessen ist auch die sexuelle Gewalt, dieser möchte ich mich jedoch in einem späteren Beitrag widmen.
Weniger direkt konfrontiert sind wir mit den Folgen ökonomischer oder sozialer Gewalt, aber auch hier kann für die Betroffenen ein hoher Leidensdruck entstehen und gerade hier finden sich oft Faktoren, die es den Opfern erschweren die gewalttätigen Partner zu verlassen.
Wir haben doch das 21te Jahrhundert, ist häusliche Gewalt wirklich noch ein großes Problem?
Laut einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hat jede vierte Frau zwischen 16 und 85 Jahren mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt durch einen Partner erfahren4. 42% der Befragten berichteten über psychische Gewalt5. Je nach Form der Gewalt geht man in 56-80% der Fälle von psychischen Folgeschäden aus6. Eine Studie der Europäischen Grundrechtsagentur aus dem Jahr 2014 kommt zu einem ähnlichen Ergebnis7.
In der polizeilichen Kriminalstatistik von 2016 wurden 133.080 Personen erfasst, die Opfer von Partnerschaftsgewalt wurden, davon waren 109.000 Frauen. Seit 2012 lässt sich laut BMFSFJ ein kontinuierlicher Anstieg der Opferzahlen beobachten8. Man muss von einer wesentlich höheren Dunkelziffer ausgehen.

Es gelingt, den Ehemann der Patientin unter einem Vorwand nach draußen zu schicken. Auf vorsichtiges Nachfragen des Arztes bestätigt die Patientin die Vermutung, dass sie keinen Fahrradsturz hatte, sondern von ihrem Mann geschlagen wurde.

Ersthilfe bei häuslicher Gewalt
Die WHO schlägt ein Ersthilfekonzept bei häuslicher Gewalt vor, welche sie mit dem Akronym „LIVES“ zusammenfasst. Ersthilfe zielt dabei vor allem auf die Versorgung der emotionalen Bedürfnisse der Opfer, aber auch darauf, praktische Hilfsmöglichkeiten und Kontakte an die Hand zu geben.
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Dokumentation in der Rettungsstelle
Die Dokumentation in der Rettungsstelle kann unter Umständen sehr wichtig für die weiteren gerichtlichen Vorgänge sein, wenn ein Opfer rechtliche Schritte einleiten will. Eine schlechte Dokumentation kann im schlimmsten Fall sogar dazu führen, dass Verfahren fallen gelassen werden.
Da in der Rettungsstelle keine Rechtsmediziner arbeiten und es nicht überall die Möglichkeit zur Schulung gibt, ist es wichtig, Kontakt zu entsprechenden Anlaufstellen herzustellen. Wenn möglich sollte dem Opfer aufgezeigt werden, wo es sich für eine Nachdokumentation hinwenden kann. Trotz allem muss versucht werden, so genau und rechtssicher wie möglich bereits in der Rettungsstelle zu dokumentieren
Dokumentiert werden sollte nach Empfehlung der WHO9:

  • Ort und Uhrzeit der Dokumentation, dokumentierende Personen und alle anderen Anwesenden
  • Kurze Angabe zum Ereignis in eigener Rede der Patienten (nur für die medizinische Versorgung notwendige Fragen stellen!)
  • Art der Verletzung
  • Beschreibung der Verletzung (Lage, Länge, Tiefe, etc.)
  • mögliche Ursache der Verletzung (wir sind keine Gerichtsmediziner, hier Vorsicht walten lassen!)
  • Weitere Beschwerden & psychischer Zustand der Patientin
  • unmittelbare und mögliche langfristige Folgen der Verletzung
  • erfolgte Behandlung

Auch die Fotodokumentation bietet einige Stolperfallen und ist wegen ihres hohen Beweiswertes wichtig für die Patienten10.

  • Datum einblenden auf Foto
  • Ein Übersichtsfoto der gesamten Person
  • Ein Übersichtsfoto & ein Detailfoto (ca. 2cm Abstand) der Verletzung mit Maßstab (zB.: bei Hämatom am Arm einmal den gesamten Arm & dann das Hämatom im Detail)
  • sichere Verwahrung der Dateien, sowie klare Kennzeichnung
  • Anzahl der Fotos und Ort der Archivierung sollten bei der Dokumentation angegeben werden

Informationen zur Rechtssicheren Dokumentation, sowie Dokumentationsbögen, findet ihr zum Beispiel auf der Website von S.I.G.N.A.L. e.V. (Intervention im Gesundheitsbereich gegen häusliche und sexualisierte Gewalt). Hier findet ihr auch die Dokumentationsbögen, die in der Charité und im Bundesland Hessen verwendet werden.
Wenn ihr die Möglichkeit habt mit der örtlichen Rechtsmedizin Schulungen zur Dokumentation zu vereinbaren kann das im Ernstfall für alle Beteiligten mehr Sicherheit bieten.
Welche Unterstützungsmöglichkeiten gibt es für die Opfer im Akutfall?
Die Polizei kann in den meisten deutschen Bundesländern einen Platzverweis aussprechen und dem Täter den Zugang zur Wohnung untersagen, inklusive Abnahme des Schlüssels. Doch aus verschiedenen Gründen scheuen manche Opfer den Gang zur Polizei. In jedem Fall ist es die Entscheidung des Opfers, ob sie die Polizei hinzuziehen möchte, solange keine akute Lebensgefahr besteht.
In Deutschland gibt es ca. 6000 Frauenhausplätze11, dennoch gibt es fast tagtäglich die Situation, dass für bedürftige Frauen keine Plätze zur Verfügung stehen. Noch schwieriger ist für Männer in Akutsituationen denn Zufluchtswohnungen für Männer gibt es nur in sechs Städten in Deutschland12.
Es ist wichtig, dass es in der Rettungsstelle eine klare Regelung gibt wie verfahren wird, wenn ein Opfer häuslicher Gewalt weder nach Hause kann, noch ein Frauenhausplatz zur Verfügung steht. Ein Gefühl der Sicherheit ist in dieser Situation sehr wichtig und große Diskussionen darüber, wo sie bleiben darf und inoffizielles Herumschleichen kann den Opfern vermitteln, dass sie hier eigentlich unerwünscht sind.
Helfen kann dabei unter anderem das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ (08000 116 016), welches jedoch keine Frauenhausplätze vermittelt, oder lokale Vereine wie zum Beispiel die BIG Hotline (030 – 611 03 00).

Es wurden alle Verletzungen dokumentiert und es wurden keine akuten Traumafolgen festgestellt. Doch als ihr angeboten wird, einen Frauenhausplatz zu suchen oder die Polizei einzuschalten wird die Patientin auf einmal abwehrend. Sie verweigert beides vehement und besteht darauf mit ihrem Mann nach Hause zu wollen. Trotz aller Angebote und gutem Zureden verlässt die Patientin gemeinsam mit ihrem Ehemann die Rettungsstelle.

Einfach zuzusehen wie ein Patient wieder zurück zum gewalttätigen Partner geht kann eine sehr belastende Situation sein, doch es ist wichtig nicht in blinden Aktionismus zu verfallen. Wir können in den meisten Fällen nicht mehr machen als Impulse setzen, Möglichkeiten aufzeigen und vermitteln, dass die Gewalt weder akzeptabel noch verdient ist.
Für ein Opfer häuslicher Gewalt ist es sehr schwer sich aus der Beziehung zu lösen, deren psychologische Folgen oft ihr Selbstwertgefühl zerfressen haben und ihr vermittelt haben, dass sie für die Gewalt verantwortlich ist. Auch isolieren viele Täter ihre Opfer von der Außenwelt, haben die Kontrolle über Finanzen und wichtige Dokumente aus oder üben Druck über die gemeinsamen Kinder aus. Viele Opfer fürchten um ihr Leben wenn sie die Beziehung verlassen sollten.
Nicht ganz zu Unrecht, denn die Trennungszeit ist die gefährlichste Zeit für die Opfer. Experten sind sich einig, dass es hier das größte Risiko für schwere körperliche Gewalt bis hin zu (versuchtem) Mord gibt. 13 14 Es ist deshalb besonders wichtig, Opfer die ihren Partner verlassen, an professionelle Stellen zu vermitteln.
Das Wichtigste, was wir tun können, wenn eine Frau ihren Partner nicht verlassen will ist ihr zu vermitteln, dass sie in der Rettungsstelle eine Anlaufstelle hat, wenn sie sich entschließen sollte aus der Gewaltbeziehung zu fliehen. Die Möglichkeit eines sicheren Hafens und die Unterstützung von Außenstehenden kann wichtiger Anstoß und Rückhalt für das Opfer sein.
Zusammenfassung:

  • Häusliche Gewalt ist ein prävalentes Problem in der Gesellschaft, deren Folgen nicht zu unterschätzen sind
  • Ersthilfe nach dem LIVES-Prinzip
  • Gute Dokumentation kann für die Opfer entscheidend sein, wenn sie rechtliche Schritte einleiten wollen
  • Die Trennungsphase ist die gefährlichste Phase
  • Es ist letztendlich die Entscheidung der Opfer ob sie die Täter verlassen wollen, Beschuldigungen oder Druck machen die Situation für sie nur noch schlimmer und verringern die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei Bedarf wiederkommen.

Ressourcen
S.I.G.N.A.L. e.V. (Intervention im Gesundheitsbereich gegen häusliche und sexualisierte Gewalt)
Klinisches Handbuch der WHO:  Download  1  2
Buchempfehlung: Why Does He Do That? – Inside the Minds of Angry and Controlling Men von Lundy Bancroft (leider nicht auf deutsch erhältlich)
Quellen
1) „Was ist häusliche Gewalt“ auf http://www.big-berlin.info/node/228 zuletzt geprüft: 28.05.2018 17:49
2) Hrsg.: Europäische Kommission – Vertretung in Deutschland: „Jede dritte Frau in Europa ist Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt“ am: 24/11/2017 (letzte Aktualisierung 28/05/2018), zuletzt geprüft: 28.05.2018 17:48
3) Hrsg.: WHO (2003): Weltbericht Gewalt und Gesundheit, S.15 ursprüngliche ISBN 92 4 154562
4) Hrsg.: BMFSFJ (2005): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland – Kurzfassung (deutsch) S. 16
5) Hrsg.: BMFSFJ (2005): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland – Kurzfassung (deutsch) S. 22
6) Hrsg.: BMFSFJ (2005): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland – Kurzfassung (deutsch) S. 13
7) Hrsg.: European Union Agency for Fundamental Rights (2014): Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung. Ergebnisse auf einen Blick
8) https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen/haeusliche-gewalt/haeusliche-gewalt/80642
9) WHO (2014); Übersetzt von S.I.G.N.A.L. e.V.: Gesundheitliche Versorgung von Frauen, Die Gewalt in der Paarbeziehung oder sexuelle Gewalt erfahren – Klinisches Handbuch der WHO; S. 57, 104-113
10) Dr. Oesterhelweg, Dr. Guddat, Prof. Dr. Tsokos (2010): Empfehlungen zum S.I.G.N.A.L.- Dokumentationsbogen bei häuslicher Gewalt, S.5 (http://signal-intervention.de/download/Dokumentation_Empfehlung_Charite_2011.pdf zuletzt geprüft: 28.05.18 16:29)
11) Schmollack, Simone: „Und er wird es wieder tun“, 2017, S. 233
12) Schmollack, Simone: „Und er wird es wieder tun“, 2017, S. 233
13) Kasperkevic, Jana, „Private Violence: up to 75% of abused women who are murdered are killed after they leave their partners“ in: The Guardian am: 20.10.2014, zuletzt geprüft: 28.05.2018 17:44
14) Pelley, Lauren, „Leaving relationship is ‚most dangerous time‘ for domestic violence victims, experts say“ in: CBC NEWS, am: 08.12.2016, zuletzt geprüft: 28.05.2018 17:42
Titlebild von By MesserWoland unter GFDL, CC-BY-SA-3.0 or CC BY-SA 2.5, via Wikimedia Commons

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