In unser virtuelles Krankenhaus „dasHOSPITAL“ wird durch den Rettungsdienst (RTD) ein Ende 20- jähriger Asylbewerber aus Nigeria gebracht. Er habe mit Suizid gedroht. Der Patient, nennen wir ihn Herrn Azikiwe, spricht gut Englisch und ein wenig Französisch, aber kaum Deutsch.
Das initiale Assessment durch den RTD und auch prima vista bei der Übergabe gibt keine Hinweise auf ein A-, B- oder C- Problem. Er erscheint agitiert, aber nicht intoxikiert. Ich bin in der Lage mit Herrn Azikiwe in ein ruhiges Behandlungszimmer zu gehen, bitte eine Schwester mit mir bei ihm zu bleiben und eine weitere einen Psychiater zu holen, da ich die Hoffnung habe, er könnte mich mit psychologischen Deeskalationsmaßnahmen unterstützen und den Patienten auf Suizidalität evaluieren. Ein kurzes Gespräch führt zu Tage, dass die Abschiebung in den nächsten Tagen droht, nachdem der Patient für gut anderthalb Jahre in Deutschland geduldet war und sogar in einer Altenpflegeeinrichtung als Küchenkraft gearbeitet hatte. Er kann es nicht verstehen und möchte lieber sterben, als wieder zurück nach Nigeria geflogen zu werden. „Please kill me, doctor! Cut my throat, you are a doctor, you know how to do it“ schreit er mich an.
Ich versuche zumindest eine Armlänge Abstand zu behalten und ihm mit ruhigen Worden zu erklären, dass ich so etwas sicher nicht machen würde. „Look at Boko Haram! You want me send back?“
Jetzt würde ich Sie bitten, kurz den Internetauftritt von Answergarden.ch aufzusuchen und eine Antwort auf folgende Frage einzugeben:
AnswerGarden: Was verstehen Sie unter Gewalt?
Die WHO beschreibt Gewalt als
“Der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, welcher konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.”
(Violence: a public health priority. Geneva, World Health Organization, 1996 (document WHO/EHA/SPI.POA.2).)
(The intentional use of physical force or power, threatened or actual, against oneself, another person, or against a group or community, that either results in or has a high likelihood of resulting in injury, death, psychological harm, maldevelopment or deprivation).
Man kann sagen, daß diese Definition ziemlich weit gefasst ist, um möglichst alles abzudecken. Unterm Strich bedeutet Gewalt, körperlichen Zwang oder Macht auszuüben, was zu psychischen oder physischen Schäden führen kann.
Überall auf der Welt wird ständig Gewalt ausgeübt und auch in Notaufnahmen. Erstaunlicherweise gibt es recht wenig Daten, was die deutsche Rettungsstellen- Landschaft anbetrifft.
Ein Telekommunikations- Unternehmen hatte 2014 eine Umfrage aus Notaufnahmen veröffentlicht in der “73 Prozent aller Befragten Übergriffe im vergangenen Jahr beklagen. Sie reichen von Randale in der Notaufnahme über Handgemenge bis zu Schlägen und Tritten.”
Die DGINA hat 2017 in einer online Umfrage herausgefunden, daß körperliche Gewaltereignisse zumindest meistens (60%) dokumentiert werden und in 67% der Krankenhäuser Deeskalations- Fortbildungen durchgeführt werden. Insgesamt haben 41% der Befragten (n=131) angegeben, sich eher selten bis nie sicher im Umgang mit Gewaltpatienten zu fühlen.
Internationale Daten zeigen, daß etwa die Hälfte der Mitarbeiter im Gesundheitswesen innerhalb eines Jahres körperliche oder psychische Gewalt erfahren. Dabei spreizt es sich von 67% in Australien bis 46% in Brasilien.
Wie sieht es bei meinem Patienten aus? Offensichtlich hat er seine Gewalterfahrungen auch schon gemacht. Er wird immer aufgeregter, steht auf, geht im Behandlungszimmer auf und ab. “ Give me a knife!, I cut my throat myself“ schreit er immer wieder und versucht den Behandlung- Trolley zu durchsuchen. Ich werde auch langsam nervös. Es sollte zwar kein Skalpell im Wagen sein, aber Kanülen und Braunülen ohne Ende. So richtig Lust auf einen Kampf um spitzes Werkzeug verspüre ich nicht und die Schwester versucht auch immer wieder auf den Patienten einzureden und sich zwischen ihn und den Trolley zu stellen. Ich sag ihr, sie soll eine Tavor expedit holen und den Psychiater noch einmal anrufen. Dann gehe ich im Kopf durch, was ich über De-Eskalation gelernt habe und welche Maßnahmen zur Ruhigstellung ich am Liebsten anwenden würde, wenn ich es denn könnte. Ich wäge ab zwischen verschiedenen Alternativen zur medikamentösen Sedierung, wie z.B. 2 mg Lorazepam s.l. oder 5 Haloperidol i.v. oder ca. 200 mg Ketamin-S i.m.. Ansonsten fällt mir noch ein, dass ich die Hilfe von 4-5 Psychiatrie-Pflegern und eine 5-Punkt- Fixierung gebrauchen könnte. Wenn ich mir das aber genau überlege, dann hätten alle Maßnahmen zwar Ihre Berechtigung, aber welche wäre die Beste? …Lorazepam: anxiolytisch, schnelle Resorption buccal, sehr einfach in der Applikationsform. Haloperidol: antipsychotisch, aber bei QT- Verlängerung nach iv Gabe anschließend überwachungspflichtig, S-Ketamin: Gehyptes Wundermittel, de facto wenig Erfahrung mit i.m. Gabe bei aggitierten Patienten, ausserdem sind 200 mg i.m. mindestens 8 ml. Dieses Depot ist sicher nicht angenehm zu spritzen. Darüber hinaus sind 5 Psychiatrie-Pfleger zur 5-Punkt Fixierung nicht immer verfügbar und die bräuchte ich auf jeden Fall, wenn ich dem Patienten gegen seinen Willen etwas spritzen will.
…außerdem…alles im Prinzip Gewaltanwendungen, darf man das?
Es gibt einige Paragraphen, die den Umgang mit Patienten und das Verhältnis zu ihnen regeln, aber welcher trifft auf meine Situation zu? Es ist der § 34 StGB und der beschreibt…?
- Notwehrparagraphen
- Menschenrechte
- Rechtfertigender Notstand
- Garanten- Stellung des medizinischen Personals
- Die Würde des Menschen ist unantastbar
Alles Punkte, die es zu bedenken gibt.
§34 StGB ist der Paragraph “Rechtfertigender Notstand” (Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden).
Kurz gesagt: Die Rechtsgüter sind abzuwägen, welches zu schützen und welches zu schädigen ist. Alle oben aufgeführten Rechte sind wichtig. Das sind nämlich die Rechtsgüter, die abgewogen werden müssen. Die Würde des Menschen sollte möglichst gewahrt bleiben. Ich muß ihn behandeln, wenn ich die Notwendigkeit sehe, dafür stehe ich mit meinem Arbeitsvertrag und meiner Diensttätigkeit zum jetzigen Zeitpunkt ein (Garantenpflicht). Um Notwehr handelt es sich derzeit nicht, da ich nicht angegriffen werde. Wichtig ist es aber zu wissen, daß Notwehr keine Abwägen kennt. In Notwehr kann man keine Rechtsgüter abwägen, sonder nur sich selber (auch mit im Nachhinein unverhältnismäßig erscheinenden Maßnahmen) retten (grob gesagt). Ich muß also in der Situation einschätzen, welche Maßnahme gerechtfertigt ist, um für die Gesundheit des Patienten einstehen zu können, ohne übermäßig andere Rechte des Patienten zu mißachten. In der akuten, psychischen Ausnahmesituation sehe ich aus ärztlicher Sicht seine Entscheidungsfähigkeit zu seiner Gesundheitsversorgung als nicht gegeben an.
Der Psychiater kommt nach langen 20 Minuten in die Rettungsstelle. Ich habe mich zwischenzeitlich weiterhin mit Herrn Azikiwe unterhalten können. Er hat sich nicht wirklich beruhigen lassen und kommt nicht aus der Argumentationsschleife heraus. Ich konnte ihn nicht überzeugen, eine Tavor einzunehmen. Wir konnten ein Gespräch führen, über die Situation in Nigeria, ich habe mit ihm zusammen seine Unterlagen und Bescheide vom Bundesamt für Migration durchgelesen und ebenso seine Zeugnisse seiner deutschen Arbeitsstellen. Ich war die ganze Zeit auf der Hut, mindestens eine Armlänge Abstand zu halten. Ich habe ihm nicht den Rücken zugekehrt und immer einen Stuhl zwischen uns gehabt, wenn er aufgestanden ist und umhergegangen ist. Seine aggressiven Äußerungen wurden nicht zu gewalttätigen Handlungen und ich war dankbar über das Deeskalationstraining, welches wir vor Jahren einmal in unserer ZNA durchgeführt hatten.
Der Psychiater spricht leider kein englisch.
Der Patient will nicht mit auf die Psychiatrie gehen.
Was jetzt?
Wie kommt es überhaupt zu aggressivem Verhalten durch Patienten in der Notfallmedizin und wie kann man dem begegnen?
Grundsätzlich sollte man davon ausgehen, daß für alle Beteiligten einer Eskalationssituation die gleichen Bedingungen gelten und alle Einfluß auf deren Verlauf nehmen können (Ausnahmen sind Intoxikation und psychiatrische Erkrankungen). Sonst wären Deeskalationsmaßnahmen ja sinnlos. In der sozialpsychologischen Konfliktforschung wird das Mentale System (z.B. psychisches Erleben, Rollenverständnis) und das soziale System (Interaktion etc.) getrennt betrachtet. Die Interaktionen werden hauptsächlich durch gegenseitige Erwartungen gesteuert. Wenn die Interaktionen zu einem Konflikt eskalieren, hat dies in erster Linie mit dem Erleben aversiver Stimulation zu tun. Bei zunehmendem Ärger und Angst kann das in Gewaltanwendungen ausbrechen. Wichtige Punkte in diesem Model sind die gegenseitigen Rollenerwartungen der Beteiligten (Wie wünscht sich der Patient das Verhalten der Behandelnden, wie wünschen sich die Behandelnden das Verhalten des Patienten). Enttäusche Erwartungen führen zu Frustrationen und können sich gegenseitig hochschaukeln. Gewalt kommt dann aus einer subjektiv erlebten Notsituation heraus. Das geht einher mit dem Gefühl der Bedrohung des Selbstwertes. Wenn anscheinend eine Bedürfnisbefriedigung verweigert wird, erlebt die Person das als Erniedrigung.
Um über die eskalierende Situation und Kommunikation Kontrolle zu bekommen, muss man sich in die Betroffenen einfühlen können. Dies beschreibt der Begriff “Empathie”. Genauso sollte man aber auch in der Lage sein, die Situation kognitiv zu erfassen und sich überlegen können, was im Kopf des Anderen vorgeht (“Theory of Mind”). Nur mit diesen Fähigkeiten ist es möglich, die Interessensunterschiede, die einen Konflikt eskalieren lassen können, zu verstehen und zu moderieren. Diese Konfliktlösungsfähigkeit kann man trainieren.
“Eskalation zur Gewalt”
Der Psychiater und ich machen ein kurzes Brainstorming. Der Patient ist soweit ruhig und erscheint nicht gegenüber dem Personal Gewalt anwenden zu wollen. Wir sind uns einig, dass Herr Azikiwi psychiatrisch aufgenommen werden muss, da wir ihn in unserem Setting zum jetzigen Zeitpunkt nicht weiter psychiatrisch evaluieren können und er auch nicht in die Asylbewerber- Notunterkunft zurück gebracht werden kann. Einer medikamentösen Sedierung steht der Patient ablehnend gegenüber. Wir haben nicht die Manpower, ihn mit dem Personal der ZNA zu überwältigen, so dass wir uns entscheiden, das ich die Deeskalation weiterführe und der Psychiater Verstärkung aus der Psychiatrie organisiert. Außerdem fordert unsere Patienten- Anmeldung aus #dasHospital Amtshilfe durch die Polizei an. Ich kündige das dem Patienten an und versuche weiterhin ein gutes Verhältnis zu ihm aufzubauen und Vertrauen zu gewinnen, damit er sich auf meine Therapievorschläge einlässt.
Nicht alle Konfliktsituationen können friedlich de-eskaliert werden. Manchmal kommt man an den Punkt, an dem man sich zwischen einer Autonomie-wahrenden Strategie und einer Grenzen-setzenden, autoritären Intervention entscheiden muss. Für alle De-Eskalationen gilt es, früh einzugreifen, möglichst eine ruhige Umgebung zu suchen, zuzuhören und zu versuchen, eine positive Beziehung aufzubauen. Dafür ist es manchmal notwendig, die angestammte Rolle zu verlassen. Es ist Vertrauen schaffend die Situation transparent zu machen, so dass keine überraschenden Aktionen passieren, die als bedrohlich empfunden werden können. Außerdem ist es vorteilhaft, wenn es nur einen (einzigen) dezidierten Kommunikationspartner gibt, der versucht, mit dem Patienten eine gemeinsame Lösung zu finden oder nach Gesichts-wahrenden Alternativen zu den möglichen Interessenkonflikten sucht. Kommt es zu einer weiteren Eskalation, muss ggf. ein klares und auch lautes Stoppsignal geben werden. Die Entscheidung zum Strategiewechsel ist ein intuitiver Prozeß und getragen von Erfahrung und der Kenntnis des Patienten und dessen Kontextes. Wenn das Verhalten zunehmend bedrohlich, einschüchternd oder gewalttätig wird, muss zügig gehandelt werden.
Es gelingt mir, mit dem Patienten das Gespräch ruhig fortzuführen, auch wenn wir keine neuen Ebenen öffnen können. Nach weiteren ca. 10 min treffen mehrere Psychiatrie- Pflegekräfte mit einem Fixierungsbett ein. Zeitgleich kommen zwei Polizei-Beamte mit voller Montur in unsere ZNA. Angesichts des massiven Aufgebotes legt sich unser Patient widerstandslos auf das Fixierungsbett, wird 5-Punkt-fixiert und zur Aufnahme in die geschlossene Psychiatrie gebracht.
Jetzt würde ich Sie bitten, noch einmal kurz den Internetauftritt von Answergarden.ch aufzusuchen und eine Antwort auf folgende Frage einzugeben:
AnswerGarden: Womit begegnet man am Besten Gewalt in der Notaufnahme?
Haben Sie einen Plan, wie man mit Gewalt in der Notaufnahme umgeht?
Die Diakonie in Flensburg hat ein schönes Model entwickelt.
Ansonsten kann man sich bei der Berufsgenossenschaft informieren.
@xaqu1n
https://www.bgw-online.de/DE/Arbeitssicherheit-Gesundheitsschutz/Umgang-mit-Gewalt/Hintergrundinformationen/Hintergrundinformationen.html
http://www.who.int/violence_injury_prevention/violence/world_report/en/summary_ge.pdf
https://de.wikipedia.org/wiki/Rechtfertigender_Notstand
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Di Martino, V. (2002). Workplaceviolence in thehealthsector – Country casestudiesBrazil, Bulgaria, Lebanon, Portugal, South Africa, Thailand, plus an additional Australianstudy: Synthesis Report. Geneva: ILO/ICN/WHO/PSI Joint Programme on Workplace Violence in the Health Sector, forthcoming working paper.
NATIONAL INSTITUTE FOR HEALTH AND CLINICAL EXCELLENCE. Centre for Clinical Practice
Review of Clinical Guideline (CG) 25: Violence: The short-term management of disturbed/violent behaviour in in-patient psychiatric settings and emergency departments
NAU J. Et al. (2009) The De-Escalating Aggressive Behaviour Scale: development and psychometric testing. Journal of Advanced Nursing 65(9), 1956–1964.
RAMIREZ, J.M. Et al. Aggression, andsomeotherpsychologicalconstructs (Anger, Hostility, andImpulsivity). NEUROSCI BIOBEHAV REV 21(1) 2005
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Hockenhull JC. A systematic review of prevention and intervention strategies for populations at high risk of engaging in violent behaviour: update 2002–8. NIHR Health Technology Assessment programme: Executive Summaries.
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