The Big Sick 2018 Tag 1 – Nachlese zur Konferenz in Zermatt

„The Big Sick“ – Eine kleine, familiäre Konferenz mit dem Fokus auf die ersten Stunden der prähospitalen und klinischen Versorgung von schwerstkranken und schwerstverletzten Patienten – das sollte TBS 18 in Zermatt werden. Ich kann vorwegnehmen: Das ist dem Organisationskommitee mehr als gelungen. Für alle, die nicht unter den ca. 60 eingeladenen Teilnehmern sein konnten, möchte ich die Ereignisse hier nach und nach als kurze Nachlese zusammenfassen und damit vielleicht dazu inspirieren, sich mit dem ein oder anderen Thema näher auseinander zu setzen.

Wendy Teoh: Different strokes for different folks

Wendy, Anästhesistin aus Singapur, eröffnet die Konferenz mit ihrem Vortrag zu Videolaryngoskopie. Innerlich seufze ich: Die endlose „ist VL oder DL besser“ Diskussion geht mir persönlich mittlerweile auf die Nerven. Aber schon nach ein paar Folien hat mich Wendy mit ihrem sympathisch frischen Präsentationsstil eingefangen und ich stelle fest: es geht hier gar nicht um VL vs. DL (auch wenn sie betont: „Practice VL in normal Airways!“). Wendy stellt aus ihrer umfangreichen Erfahrung eindrücklich dar, dass Videolaryngoskop nicht gleich Videolaryngoskop ist und dass es sich lohnt, zwischen Macintosh-Laryngoskopen, die VL und DL können, hyperangulierten Videolarnygoskopen wie dem Glidescope und VL mit Führungskanal zu unterscheiden. Jedes Modell hat seine eigenen Eigenschaften, Vor- und Nachteile und ist daher für bestimmte Patientengruppen besonders geeignet oder ungeeignet. Zusammenfassend sagt sie zu den verschiedenen Devices:

  • Mac-VL: Intuitive Handhabung wie DL, beide Techniken sind mit dem Device möglich,
  • Hyperangulierte VL (C-Mac D-Blade, Glidescope, McGrath): Benötigen ein Stylett und führen häufiger zu Verletzungen (0,2% vs. DL: 0,015%) insbesondere des weichen Gaumens und der Tonsillen. Zur Vermeidung empfiehlt sie die „Mouth-Screen-Mouth-Screen“-Technik: Beim Einführen des VL in den Mund, nicht auf den Bildschirm schauen (dort gibt es am rechten Bildrand eine art toten Winkel), anschließend die Stimmritze auf dem Bildschirm darstellen, beim Vorschieben wieder den Mund im Auge behalten und anschließend die korrekte Tubuslage über den Bildschirm verifizieren. Generell sollte zur Vermeidung von Verletzungen das Stylett niemals über das Tubusende hinausragen und der Tubus beim Einführen möglichst nah an der Spitze des VL-Spatels bleiben.
  • VL mit Führungskanal (Wendy schließt hier auch das Airtraq mit ein): Benötigen zwar kein Stylett, aber sind auch alles andere als intuitiv zu bedienen, weil sich die Technik von der der direkten Laryngoskopie deutlich unterscheidet. Einen Tipp für die Praxis zieht Wendy noch aus dem Ärmel: Bei übergewichtigen Patienten oder Frauen mit großen Brüsten kann es aus Platzgründen schwer sein, ein getunneltes VL korrekt einzuführen. Dabei kann einmal die (in der FOAM-Welt viel besungende) Technik der Oberkörperhochlagerung mit Ohrläppchen auf Höhe des Jugulums („Ear to sternal notch“) helfen, zum anderen ist es evt. hilfreich, den Spatel ohne Display einzuführen und das Display erst danach anzubauen.

Am Ende schlägt sie den Bogen doch noch einmal zurück zu DL vs. VL im Allgemeinen und definiert auf Basis der verfügbaren Literatur vier typische Patientengruppen:

  1. Patienten mit HWS-Immobilisation: Die Intubation mit Videolaryngoskop scheint im ersten Versuch erfolgreicher zu sein als die direkte Laryngoskopie, hinsichtlich der HWS-Manipulation während der Intubation sind beide Techniken jedoch vergleichbar.
  2. Patienten in der Notaufnahme: Je mehr Prädiktoren für einen schwierigen Atemweg bei dem Patienten vorliegen, desto eher wird ein Intubationsversuch mit Videolaryngoskop erfolgreicher sein als mit direkter Laryngoskopie. Für Patienten auf der ITS oder in der Notaufnahme empfiehlt Wendy im ersten Anlauf ein Videolaryngoskop mit Macintosh-Spatel (wie das C-MAC von Storz), als Backup oder bei vorhersehbar schwieriger Laryngoskopie sollte aber ein hyperanguliertes Device (wie beispielsweise das Glidescope) verfügbar sein.
  3. Prähospitale Intubation im Freien: Es gibt keinen Zweifel: In hellem Sonnenlicht ziehen alle aktuell verfügbaren Videolaryngoskope im Vergleich mit direkter Laryngoskopie den Kürzeren. Manche VL sind besser geeignet als andere, manchmal hilft eine Sonnenbrille oder eine schattenspendende Decke über Intubierendem und Patient, letztlich bleiben aber nur zwei sinnvolle Lösungsansätze: DL oder die Intubation nicht im Freien durchführen.
  4. Patienten mit eingeschränkter Mundöffnung, ausgedehnten Abszessen, ausgeprägter Narben- oder Verwachsungsbildung nach OP oder Bestrahlung im Halsbereich sind (innerklinisch…) weiterhin mit einer fieberoptischen Wachintubation am besten zu versorgen.

Ein paar Worte verliert Wendy auch noch zur Dokumentation von Intubationen mit VL: Die klassische Cormack-Lehane-Einteilung macht hier wenig Sinn, Wendy stellt als Alternativen den POGO-Score und die IDS vor.

Michael Seitz Kristensen: The Search for the Hole

Michael Seitz Kristensen spricht über die wirklich schwierigen Atemwege, nämlich die, bei denen es durch Tumoren, Vernarbung, Verwachsungen oder andere Pathologien selbst mit Videolaryngoskopie oder bei fieberoptischer Wachintubation schwierig ist, die Trachea zu identifizieren. Aus seinem Vortrag nehme ich mehrere spannende Anregungen mit:

  • Die IRRIS Technik (ein Video vom Einsatz der Technik bei einer Patientin gibt’s hier): Ein Infrarot-Blinklicht wird auf die Cricothyroid-Membran des Patienten geklebt und wirkt für den Intubierenden als „Licht am Ende des Tunnels“: Viele Videolaryngoskope / Fieberoptiken stellen infrarotes Licht dar, sodass die Trachea leichter aufgesucht werden kann, wenn die Anatomie stark verändert ist.
  • Retrograde Intubation: Über eine Nadel-Koniotomie z.B. mit einer Venenverweilkanüle (min. 18 G) wird ein PDK gefädelt, aus dem Mund heraus gezogen, durch das Murphy-Auge am Ende des Tubus geknotet und dieser dann vorsichtig am PDK in die Trachea gezogen. Nix für Situationen, in denen es schnell gehen muss, sonst aber sehr elegant – Michael zeigt zum Beweis ein Video von der Anwendung bei einem Patienten mit massiver oberer GI-Blutung.
  • Wenn am Tumor o.ä. nur ein winziger Tubus vorbei passt, dann kann ein „normaler“ Erwachsener auch über einen 2,5er Tubus ausreichend ventiliert werden. Michael nutzt dazu den Ventrain, den ich bisher nur zur Ventilation über Nadelkoniotomien kannte. Auch dazu gibt’s auf Michaels Seite ein Video.

Richard Levitan: Priorities of Airway Management

Rich ist einer der Titanen der internationalen FOAM-Szene und schiebt vor seinen Vortrag noch schnell den Disclaimer, dass er zwar Amerikaner sei, mit einem gewissen twitternden Selbstbräuner-Großverbraucher aber ansonsten nichts gemeinsam habe und dass dies auch für die Mehrheit seiner Landsleute zutreffe – er erntet spontanen Applaus. Er spricht über ein paar klassische FOAM-Themen:

  • Prioritäten im Atemwegsmanagement – wenn es nach Rich geht ist es defintiv nicht die Ventilation (außer vielleicht bei schweren Fällen von diabetischer Ketoazidose), sondern das Verhindern von Hypoxie und Aspiration
  • Oberkörper-Hochlagerung statt Flachlagerung bei Patienten mit Atemnot und zum Atemwegsmanagement (aus dem englischen FOAM-Universum ist die Flachlagerung einigen sicher schon als COFFIN-Position bekannt). Weniger Regurgitation, weniger abdomineller Gegendruck, weniger Obstruktion durch Halsweichteile.

  • Dass Patienten, die hoch sauerstoffpflichtig sind, sich ihre O2-Masken (gemeint sind hier die Reservoirmasken zur O2-Gabe, keine NIV-Masken) vom Gesicht ziehen, ist nicht Ausdruck von Incompliance sondern Ausdruck dessen, dass die O2-Versorgung und CO2-Abatmung unter diesen O2-Masken möglicherweise unzureichend sind – unter anderem, weil der vom Patienten benötigte inspiratorische Flow von der Maske nicht gewährleistet werden kann und so subjektiv die Atmung eher behindert. Die Lösung? High-Flow O2 über eine Nasenbrille (ja, kurzzeitig dürfen darüber auch mal mehr als 4 l/min laufen), bei Verfügbarkeit am allerbesten als HFNC mit Erwärmung und Befeuchtung des O2. Mehr als eine FiO2 von 0,45 sei mit den Standard-O2-Masken ohnehin nicht drin, gerade bei übergewichtigen Patienten sei die Nasenbrille mit hohem Flow da weit überlegen.
  • Bougies – am liebsten für jede Intubation (beim einfachen Atemweg üben, beim schwierigen Atemweg nutzen), für den chirurgischen Atemweg sowieso. Dabei legt Richard persönlich viel Wert auf das haptische Gefühl des Bougies an den Trachealspangen (im Gegensatz zu Scott Weingart) und hat in jahrelanger Vorarbeit in seinem Airway-Lab einen Bougie ertüftelt, mit dem das besonders gut gehen soll. Das Konzept hat er an Intersurgical verkauft, die den Bougie wohl im Sommer auf den Markt bringen wollen – beim Ausprobieren abends an der SALAD-Bar war für mich als wenig Atemwegserfahrene der Vorteil gegenüber bereits verfügbaren Modellen allerdings offen gestanden nicht nachvollziehbar, vielleicht hätten Kollegen aus der Anästhesie das anders empfunden.

Jim DuCanto: The Dark Side of Airway Management

Geht es nach Jim, König der Vomikins (Vomikins = Airway-Phantome, die schwallartig erbrechen), sprechen wir viel zu häufig über die schönen Seiten des Atemwegsmanagements: Optimierte Sicht, elegante Techniken, tolle Oxygenierung. Mit der dunklen Seite, nämlich dem kontaminierten Atemweg, beschäftigt man sich in der Theorie eher ungern und so recht repräsentiert ist sie in den Standardalgorithmen (auch im von Jim hoch gepriesenen Vortex) auch nicht – dabei handelt es sich gerade in der notfallmedizinischen Praxis um ein hochrelevantes Thema. Die drei Kernaussagen aus seinem Vortrag rund um seine Entwicklungen auf diesem Gebiet (insbesondere die SALAD-Technik = suction assisted laryngoscopic airway decontamination):
1. Beim kontaminierten Atemweg macht es keinen Sinn, vor der Dekontamination zu ventilieren, viel eher müssen die Algorithmen dahingehend angepasst oder zumindest so angewandt werden, dass man nicht mehr verleitet ist Erbrochenes o.ä. noch tiefer in die Atemwege zu ventilieren.
2. Im Angesicht eines kontaminierten Atemwegs stehen wir mit unseren Standard-Absaugkathetern dumm da, sowohl die international gern genutzten Yankauer als auch die in der deutschen Präklinik weit verbreiteten, langen, flexiblen Absaugkatheter haben einfach nicht genug Durchmesser und Flussrate, um mit Erbrochenem oder Koageln im Atemweg fertig zu werden. Da müssen wir dringend nachbessern! Es muss ja nicht gleich der von Jim entwickelte DuCanto-Katheter sein (wobei der in der Simulation tatsächlich großen Spaß macht, aber in Deutschland aktuell nicht erhältlich ist), aber irgendeine Form der großlumigen Absaugung zur Verfügung zu haben ist entscheidend. Aus Jims Sicht dient ein starrer Sauger dabei nicht nur zu einer fortgeführten Absaugung während der Laryngoskopie, sondern auch um das Einführen des Laryngoskop-Spatels zu erleichtern und – falls benötigt – die Zunge zu kontrollieren bzw. zu verdrängen.
3. Stresssituationen wie kontaminierte Atemwege müssen trainiert werden – mit ein wenig Kreativität und überschaubaren Kosten lassen sich die meisten Standard-Intubationsköpfe zu SALAD-Simulatoren umbauen. Eine Anleitung für eine schon etwas fortgeschrittene Version hatte Carlos hier schon einmal veröffentlicht. Typische Fehler sind dabei aus Jims Sicht schlechte Kontrolle über die Zunge, das Einführen des Spatels in schwer kontaminierte Atemwege ohne Sichtmöglichkeit und das Fehlen einer Strategie für erneute bzw. fortwährende Atemwegskontamination beispielsweise bei starker Blutung.
Jim’s Vortrag gibt es hier bei Scancrit zum Nachschauen.

Zwischen 11:00 und 16:00 Uhr sind wir bei strahlendem Wetter anschließend alle auf den Skipisten verschwunden bzw. waren beim Heliskiing oder Helikopter-Longline-Training mit Air Zermatt.


Die Nachmittagssession im Überblick:

Jens Sigfridsson über RETTS (Rapid Emergency Triage & Treatment System)

Jens stellt das von ihm mit entwickelte Triagesystem RETTS vor – ich persönlich gestehe, dass ich mich dabei eher auf meinen Kaffee und die Twitter-Diskussionen des Vormittags konzentriere. Natürlich wirbt er mit gesteigerter Patientensicherheit und geringeren Kosten. Ich horche kurz auf, als er auch erwähnt, dass RETTS zu weniger Kliniktransporten führe – offenbar wird das System auch präklinisch zur Entscheidung über RD-Transporte eingesetzt – für Deutschland sehe ich persönlich da aktuell wenig Anwendungsmöglichkeit.

Per Kristian Hyldmo: Spinal stabilization – State of the art?

Mein persönliches Highlight des ersten Tages. Per spricht über eines meiner Herzensthemen: Die Wirbelsäulenimmobilisation bei Traumapatienten. Er habe nie verstanden, wie jemand auf die Idee kommen konnte, dass es klug sei bewusstlose Traumapatienten flach auf dem Rücken liegend ohne gesicherten Atemweg straff auf ein Spineboard zu fesseln, sie darauf zu transportieren und im schlimmsten Fall noch in der Notaufnahme darauf liegen zu lassen. Innerlich seufze ich, denn genau diesen Irrsin habe ich auch nie verstanden. Was haben unsere Patienten denn davon? Per macht eine Kosten-Nutzen-Abwägung: Nutzen: Wenig, wie die von ihm angeführten Studien zeigen. Kosten: Eingeschränkte Atemmechanik, Aspirationsgefahr, Schwierigkeiten bei agitierten Patienten – mehr Sedierung nötig, Druckstellen / Dekubiti, vom „Komfort“ mal ganz zu schweigen. Und der Stifneck? Für sich allein schon in heißer Diskussion (fragliche Hirndrucksteigerungen durch behinderten venösen Rückfluss, Druckstellen, wenig zusätzliche Immobilisation, …). Zu meiner Freude zieht Per dann noch ein Ass aus dem Ärmel: Die von ihm mit erarbeitete neue norwegische Leitlinie zur Immobilisation von Traumapatienten (ich liebe sie und auch die dort zitierten Quellen sind einen Blick wert!). Die Kernpunkte:

  • Patienten mit vermuteter WS-Verletzung sollen natürlich weiterhin immobilisiert werden – dazu ist das Umlagern mit einer Schaufeltrage und der Transport in einer Vakuummatratze wesentlich besser geeignet als ein Spineboard, der Transport auf einer harten Unterlage ist allenfalls für sehr kurze Distanzen akzeptabel.
  • Immobilisation soll niemals lebensrettende Maßnahmen verzögern oder behindern
  • Patienten mit isoliertem penetrierendem Trauma sollen nicht immobilisiert werden
  • Die Entscheidung über eine Immobilisation (inbes. auch HWS-Immobilisation) soll anhand klinischer Kriterien getroffen werden, nicht anhand des Unfallmechanismus. Per betont hier noch einmal die Güte und den Nutzen der NEXUS-Kriterien zur Entscheidung über HWS-Immobilisation und Bildgebung. Es soll keine routinemäßige Anlage von Zervikalstützen erfolgen. Leider erlebe ich persönlich in der Klinik und im Rettungsdienst das komplette Gegenteil davon, obwohl NEXUS in ATLS längst verankert ist, geht euch das auch so?
  • Patienten, die dazu in der Lage sind, sollen dazu eingeladen werden, sich selbst aus Fahrzeugen zu befreien anstelle einer technischen Rettung.
  • Patienten mit Bewusstseinsstörungen aber (noch) ohne gesicherten Atemweg sollen nicht flach auf dem Rücken, sondern in der lateralen Traumaposition (auch dieser Artikel von 1995! dazu ist lesenswert) gelagert werden, einer Modifikation der stabilen Seitenlage. Dies gilt auch für den Transport, sofern der Atemweg nicht vor Ort gesichert wird. Die NATO wusste das schon 1957…

Samuel Tisherman – From CPR to EPR (Emergency Preservation and Resuscitation)

Nach dem genialen Vortrag von Per setzt der nächste Redner, Samuel Tisherman, noch einen drauf und lässt mich sprachlos zurück. Wir alle haben mittlerweile brav gelernt, dass Hypothermie Traumapatienten tötet und tun unser bestes, sie zu vermeiden. Samuels erste These, kaum dass er sich vorgestellt hat: Lasst uns verblutende Traumapatienten absichtlich massiv unterkühlen und ihr komplettes Blutvolumen durch eiskaltes NaCl ersetzen, um sie zu retten. Bitte was? Ist der Typ irre? Er beginnt zu erklären: Patienten, die durch Verbluten einen Herzstillstand erleiden, haben aktuell praktisch keine Chance präklinisch erfolgreich reanimiert zu werden. Insbesondere in militärischen Settings sei dies hochrelevant, aber natürlich auch für zivile Situationen. Was wäre nun aber, wenn man diesen Leuten Zeit kaufen könnte? Zeit, sie ohne neurologische Schäden im Kreislaufstillstand über ggf. auch weitere Strecken zu transportieren, hin zu einem Chirurgen, der die Verletzung versorgen kann, um sie anschließend wiederzubeleben? Meine Gedanken schweifen kurz ab zu Frankensteins Monster und der vom italienischen Neurochirurgen Canvero geplanten Kopftransplantation. Samuel argumentiert unbeirrt nüchtern weiter: Dass man Hypothermie zur Neuroprotektion nutzen kann wissen wir, von Fallberichten über Lawinenunfälle und Ertrinken in eiskalten Gewässern, wir nutzen es längst für OPs in tiefer Hypothermie z.B. in der Herzchirurgie oder beim gezielten Temperaturmanagement nach CPR. Eigentlich also kein neuer Gedanke. Er sagt: Hypothermie beim Trauma ist wie Ying und Yang, einerseits tötet akzidentielle Hypothermie Patienten durch Gerinnungsstörungen, Stress und erhöhten Energieverbrauch durch Shivering, hypotherme Traumapatienten haben eine dreifach erhöhte Mortalität im Vergleich zu normothermen Traumapatienten. Und doch kann eine kontrollierte, induzierte Hypothermie den Stoffwechsel so weit reduzieren, dass eine längere Phase des Herzstillstands für das Gehirn tolerabel wird. Was ist also sein Vorschlag (den er im Tierversuch bereits erfolgreich umsetzt und mit seinem Team jetzt an der Uni Baltimore auch an Patienten im Rahmen einer Studie erproben wird)? Wenn ein Patient durch Verbluten in den Kreislaufstillstand gerät, spülen er und sein Team den Körper über eine intraaortale / femoral-arterielle Infusion von mindestens 500 ml/ kg KG eiskalter Kochsalzlösung – auf der venösen Seite wird das Blut abgezogen und verworfen. Die Zieltemperatur? 10° Celsius. Ich überschlage: Für meine 60 kg heißt das, mein komplettes Blutvolumen würde durch mindestens 30 Liter kalte Kochsalzlösung ersetzt! Puh… In diesem Zustand können dann Transport – Tisherman wirft 2 Stunden oder länger in den Raum – oder Operationen erfolgen, anschließend erfolgt eine Transfusion mit kontrollierter Wiedererwärmung und Reanimation mit eCPR. Darauf folgt eine prolongierte Phase der kontrollierten Hypothermie für weitere 36 Stunden nach Wiedereinsetzen des Kreislaufs. Das angestrebte Patientenkollektiv sind ausschließlich Patienten mit Kreislaufstillstand durch Verbluten nach penetrierendem Trauma, die vor maximal 5 Minuten den Kreislaufstillstand erlitten haben. Als Kontrollgruppe dienen Patienten, die die Kriterien erfüllt hätten, aber bei denen kein Team verfügbar war, das EPR durchführen kann. Das Procedere: Diese Patienten erhalten die indizierte Notfall-Thorakotomie (im Sinne einer PERT), wenn sich dadurch kein ROSC erzielen lässt wechselt das Team auf EPR („Emergency Preseveration and Resuscitation“) und beginnt mit der Kühlung.
Ich bin schwer gespannt auf die Ergebnisse (die Presse auch…) und vermute stark, dass sich zu dem Thema demnächst noch ein ausführlicher Post auf dasFOAM.org finden wird 😉 Übrigens haben Fernsehserien wie Grey’s Anatomy oder Code Black das Thema längst als dramatisch genug für eine TV-Adaptation angesehen – Samuel Tisherman trägt’s mit Humor und zeigt einen kurzen Ausschnitt (selbstverständlich ist die Prozedur in der Fiktion erfolgreich). Sam’s Vortrag gibt es hier im Video.

Geir Strandenes – Shock and blood failure: The holistic view

Geir schafft Tatsachen, noch bevor er ein Wort verloren hat: Er betritt die Bühne mit einer roten „Make whole Blood great again“ Kappe und einem Projekt-Shirt mit dem „Blood is for bleeding. Saltwater is for cooking pasta.“-Zitat von Phil Spinella. Geir ist (wie Philip Spinella) Gründungsmitglied des THOR-Netzwerks, das sich intensiv mit Forschung zu hämorrhagischem Schock und seiner – insbesondere prähospitalen – Therapie auseinandersetzt. Anmerkung: Die auf der Thor-Website zur Verfügung gestellten Paper und Ausbildungsmaterialien sind äußerst umfangreich, aber größtenteils auch absolut lesenswert, das Thema kann in dieser kurzen Zusammenfassung leider nicht ansatzweise vollständig repräsentiert werden.


Seine These: Wir sollten Schock, Endotheliopathie und Koagulopathie nicht als isolierte Ereignisse betrachten, sondern vielmehr als eine Konsequenz aus Störungen innerhalb eines einzigen, dynamischen Organsystems: dem Blut. Dann könnten wir beginnen, von „Blutversagen“ und seinen Leitsymptomen (Erythrozytenversagen mit Schock, Gerinnungsversagen mit Blutung oder Thrombose, Endothelversagen mit Kapillarleck etc.) zu sprechen. Die wichtigsten Kernpunkte:

  • „Bis zum ersten Weltkrieg haben wir einfach geblutet. Seitdem bluten wir nur noch Blutkomponenten und suchen verzweifelt nach der Lösung, in welchem Verhältnis wir sie ersetzen sollten“ – aus Geirs Sicht gibt es nicht die Spur eines Zweifels daran, dass in der Akutsituation zunächst Vollblut zu transfundieren ist, anstelle der Transfusion von Komponenten in welchem Verhältnis auch immer. Sein Credo: Das ersetzen, was fehlt – und das sei eben Vollblut, im besten Falle warm.

  • „Permissive Hypotension? Wir haben keine Ahnung! Was die Studien zur permissiven Hypotension zeigen ist, dass Kristalloide die Sache schlimmer machen, nicht, dass permissive Hypotension förderlich ist!“. Immer wieder betont Geir, dass eine Therapie mit Kristalloiden auch als präklinische Interimslösung mit Komplikationen einher geht, wie beispielsweise einer Schädigung der Glykokalyx. Sein Lösungsvorschlag, man ahnt es: Präklinische Vollbluttransfusion, je nach Setting (Humanitäre Hilfe, Militär, Katastrophen etc.) auch als „Walking Blood Bank„, d.h. vorher auf Infektionskrankheiten etc. getestete Teammitglieder fungieren als Spender. Anmerkung: Das durchaus streitbare Konzept der „Walking Blood Bank“ nutzt derzeit meiner Kenntnis nach beispielsweise das weltgrößte und bisher einzige als WHO EMT-3 zertifizierte Feldhospital der Israelischen Armee erfolgreich.
  • Schock und sein Ausmaß (Sauerstoffschuld) ist der wichtigste Antrieb des Blutversagens. Der Hb ist entscheidend gerade im „low flow state“ des Schocks und er ist entscheidend für die Thrombozytenaggregation. Je früher der Schock behandelt werden kann, desto geringer die „Schockdosis“ und desto weniger schwerwiegend die Auswirkungen auf den Gesamtorganismus. Eine permissive Hypotension mit systolischen Zielwerten von 80-90 mmHg ist möglicherweise ungeeignet als Endpunkt der Schockbehandlung. Dazu hat er eine kleine Beispielrechnung parat: Bei HZV 3,0 l/min, Hb 14 g/dl und SpO2 98% ist das O2-Angebot (DO2) 551 ml/min, bei gleicher Hämodynamik und Sättigung aber nur einem Hb von 7 g/dl beträgt das Sauerstoffangebot nur 275 ml/min. Die maximal aus dem Blut extrahierbare Menge an O2 bei Hb 14 g/dl liegt damit bei 385 ml/min (und somit über der anaeroben Schwelle), bei einem Hb von 7 g/dl nur noch bei 192 ml/min (und dann unter der anaeroben Schwelle).
  • Eine frühe Transfusion von Thrombozyten ist sinnvoll, um Thrombozytendysfunktion, -verlust und -verbrauch positiv zu beeinflussen
  • Therapie mit Kristalloiden schädigt die Glykokalyx, eine Wiederherstellung scheint durch Therapie mit Plasma möglich
  • Lagerung schadet Blutprodukten. Insbesondere bei Thrombozyten ist hochrelevant, ob sie gefroren oder bei Raumtemperatur gelagert wurden (kühle Thrombozyten haben eine bessere Funktion), längere Lagerdauer von Erythrozytenkonzentraten ist assoziiert mit erhöhter Mortalität. https://twitter.com/velianton/status/961297413196730368
  • Das gemeinsame Ziel: Keine vermeidbaren Todesfälle mehr nach Trauma

Geirs Fazit: Das Ganze ist größer als die Summe seiner Teile, die Therapie des Blutversagens sollte die Transfusion von Vollblut sein. Eine These, die eine der am heißesten diskutierten der ganzen Konferenz bleibt.
Hier gibt’s Geirs Vortrag im Video.


Im Anschluss an die Abendsession ziehen wir relativ geschlossen weiter an die Hotelbar – dort finden sich nicht nur gute Gesellschaft und Getränke, sondern auch SALAD-Simulatoren, Airway-Simulatoren, spontane Sono-Sessions und der von Rich Levitan für Intersurgical neu entwickelte Bougie, den er bis tief in die Nacht nicht müde wird immer wieder neuen Teilnehmern zu zeigen und zu erklären – mir persönlich erschließt sich die riesige Innovation darin offen gestanden nicht, aber ich bewundere Richards flammende Begeisterung für „sein“ Thema Atemweg.



Um das TBS18-Feeling einzufangen hat Marius ein tolles Video produziert, das ich euch zum Abschluss ebenfalls nicht vorenthalten möchte – vielleicht kriegt ja jemand Lust auf #TBS19 😉

Anmerkung: Die angeführten Expertenmeinungen und Empfehlungen sind die Meinung der jeweiligen Vortragenden.

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