Wiederkehrender “low-risk” Brustschmerz in der klinischen Notfallmedizin - die GRACE-1 Leitlinie

Das Leitsymptom “Brustschmerz” macht, abhängig von der Quelle, fast 10% aller Besuche in Klinken für Notfallmedizin aus. Der Großteil (83%) dieser Patient*innen haben entweder unspezifischen Brustschmerz oder eine nicht-kardiologische Ursache (35%) und können rasch entlassen werden.

Eine Risiko-Stratifizierung für 30 oder 45 Tage Major Adverse Cardiac Events (MACE) mittels eines validierten Tools für den akuten Brustschmerz, wie z.B. mit dem HEART Score, TIMI Score oder dem modified HEART-Pathway gehört zur Standard-Evaluation von Brustschmerz-Patient*innen in der Notfallmedizin. MACE werden meist als akuter Myokardinfarkt, Notwendigkeit einer perkutanen Koronarintervention (PCI), eines Koronararterien-Bypass (CABG) oder Tod innerhalb eines bestimmten Zeitraumes definiert. Mehr zum HEART Score (sogar mit Video!) gibt es in diesem dasFOAM Artikel.

Der Umgang mit low-risk Patient*innen ist eine Herausforderung für Behandelnde. Auf der einen Seite wissen wir, dass das 30/45-Tage MACE Risiko sehr gering ist. Zudem ist das häufigste MACE bei low-risk Patient*innen die Notwendigkeit einer PCI und nicht der Tod. Durch schnelle Entlassung und ambulante Anbindung verhindern wir overcrowding in der Klinik, zudem konnte in verschiedenen Studien gezeigt werden, dass eine weitere Diagnostik schwere kardiale Ereignisse nicht reduziert und gleichzeitig Kosten und Aufenthaltsdauer erhöht. Dazu gibt es ein, zwei, (drei)Quellen.

Auf der anderen Seite möchten sich Behandelnde sicher sein, nicht eine potentiell lebensbedrohliche Ursache des Brustschmerzes zu übersehen. Der Umgang mit low-risk Brustschmerz Patient*innen ist darum ein Thema mit Potenzial, das die notfallmedizinische Forschung in den nächsten Jahren sicher noch mehr beschäftigen wird.

Noch spannender wird es bei der Subgruppe der low-risk Brustschmerz-Patient*innen die als “Frequent-Runner” häufiger in Notfallzentren kommen. Den Umgang mit genau diesen Patient*innen betrachtet jetzt die erste Guideline for Reasonable and Appropriate Care in the Emergency Department (GRACE-1) der Society for Academic Emergency Medicine. Hier wurde “wiederkehrender low-risk Brustschmerz” als zwei oder mehr Besuche in der Klink für Notfallmedizin in den letzten 12 Monaten definiert, bei denen es jeweils keine Anzeichen für ein Akutes Koronarsyndrom (ACS) oder eine Koronarstenose gab. Als “low-risk Brustschmerz” wurde ein HEART Score von <4 Punkten angesehen oder ein ähnliches Ergebnis mit einem anderen Risikostratifizierungstool bezogen auf 30-Tage MACE.

Das Team arbeitete an dieser Leitlinie nach dem Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation (GRADE) Approach. Sie entwickelten acht klinische Fragen im PICO (Population, Intervention, Comparison, Outcome) Format, die durch eine gemeinsame systematische Literaturrecherche und nach dem GRADE Approach systematisch beantwortet und bewertet wurden.

Die acht Empfehlungen:

Empfehlung 1: Bei erwachsenen Patient*innen mit wiederkehrendem low-risk Brustschmerz mit Symptomdauer >3 Stunden wird ein einzelnes, hochsensitives Troponin unterhalb eines validierten Cutoffs empfohlen, um ein ACS auszuschließen und von einem geringen Risiko innerhalb von 30 Tagen auszugehen. (Geringe Evidenz).

Empfehlung 2: Bei erwachsenen Patient*innen mit wiederkehrendem low-risk Brustschmerz und einem normalen Belastungstest innerhalb der letzten 12 Monate wird nicht empfohlen, einen neuerlichen Belastungstest durchzuführen (Geringe Evidenz).

Empfehlung 3: Bei erwachsenen Patient*innen mit wiederkehrendem low-risk Brustschmerz gibt es keine ausreichende Evidenz, eine Krankenhausaufnahme gegenüber einer Entlassung zu präferieren um die Wahrscheinlichkeit für 30-Tage MACE zu verringern (Keine Evidenz).

Empfehlung 4: Bei erwachsenen Patient*innen mit wiederkehrendem low-risk Brustschmerz und nicht-okklusiver KHK (<50 % Stenose) bei vorangegangener Angiographie innerhalb von fünf Jahren wird eine ambulanten Abklärung anstelle einer stationären Abklärung empfohlen. (Geringe Evidenz).

Empfehlung 5: Bei erwachsenen Patient*innen mit wiederkehrendem low-risk Brustschmerz ohne okklusive KHK (0 % Stenose) bei vorangegangener Angiographie innerhalb von fünf Jahren wird eine beschleunigten ambulanten Untersuchung anstelle einer Aufnahme zur stationären Untersuchung empfohlen. (Geringe Evidenz).

Empfehlung 6: Bei erwachsenen Patient*innen mit wiederkehrendem low-risk Brustschmerz und vorheriger CCTA (“Coronar-CT”) innerhalb der letzten zwei Jahre ohne Koronarstenose werden neben einem einzelnen hochsensitiven Troponin unterhalb eines validierten Cutoffs keine weiteren diagnostischen Tests empfohlen. (Mäßige Evidenz).

Empfehlung 7: Bei erwachsenen Patient*innen mit wiederkehrendem low-risk Brustschmerz wird die Anwendung von Screening-Tools für Depressionen und Angstzustände empfohlen, da diese einen Einfluss auf die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens und erneute Besuche in Notfallzentren haben könnten. (Sehr geringe Evidenz).

Empfehlung 8: Bei erwachsenen Patient*innen mit wiederkehrendem low-risk Brustschmerz wird eine Überweisung zur Behandlung von Angstzuständen oder Depressionen empfohlen (Geringe Evidenz).

Musey, P. I., Bellolio, F., Upadhye, S., Chang, A. M., Diercks, D. B., Gottlieb, M., Hess, E. P., Kontos, M. C., Mumma, B. E., Probst, M. A., Stahl, J. H., Stopyra, J. P., Kline, J. A., & Carpenter, C. R. (2021). Guidelines for reasonable and appropriate care in the emergency department (GRACE): Recurrent, low‐risk chest pain in the emergency department. Academic Emergency Medicine. https://doi.org/10.1111/acem.14296

Weiterführende Links:

SAEM Virtuelle GRACE-1 Vorstellung auf YouTube

SGEM#337: AMAZING GRACE-1 HOW SWEET THE GUIDELINES – RECURRENT, LOW-RISK CHEST PAIN IN THE EMERGENCY DEPARTMENT

Anmerkung: In diesem Artikel wurde anstatt dem gängigen Terminus “Notaufnahme” der Terminus “Klink für Notfallmedizin” oder “Notfallzentrum” genutzt, da dieser meiner Meinung nach die heutigen Aufgaben der modernen Notfallmedizin, die einen Großteil der Patient*innen in die Häuslichkeit zurück entlässt, besser definiert. Mehr dazu gibt es in diesem Artikel.

Wie immer gilt: Der Einzelfall entscheidet. Der Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit und die genannten Empfehlungen sind ohne Gewähr. Die Verantwortung liegt bei den Behandelnden. Der Text stellt die Position des Autors dar und nicht unbedingt die etablierte Meinung und/oder Meinung von dasFOAM.

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