Woher kommt der Mythos?
Warum ist dieser Mythos falsch?
Hierfür gibt es drei Gründe: Zuallererst, wenn der Patient hyperkaliäm ist, dann hat Ringer-Laktat eine niedrigere Kaliumkonzentration als der Patient. Gibt man einem hyperkaliämen Patienten jetzt Ringer-Laktat, so wird sich die Kaliumkonzentration des Patienten in Richtung 4-5 mmol/l bewegen, und somit den Kaliumspiegel reduzieren. Dies wurde 2012 sehr gut von Piper et al veranschaulicht:
Auch wenn dies häufig als Ursache einer Hyperkaliämie bei Patienten mit Niereninsuffizienz angegeben wird, so sollte die Infusion von Ringer-Laktat mit ungefähr 4 mmol/l Kalium keine Hyperkaliämie verursachen. Selbst wenn das gesamte Plasma des Patienten mit Ringer-Laktat ausgetauscht werden würde, so würde die K+-Konzentration nicht die im Ringer-Laktat (von 4 mmol/l) übersteigen (S. 196).
Bedenkt man zweitens, dass das Verteilungsvolumen von Kalium größer als das extrazelluläre Flüssigkeitsvolumen ist, so wird klar, dass jegliche Infusion mit einer annähernd normalen Kaliumkonzentration nahezu keine Auswirkung auf die Serum-Kaliumkonzentration haben wird. Gehen wir beispielsweise von einem 70 kg schweren Mann mit einer Serum-Kaliumkonzentration von 6 mmol/l und einem extrazellulären Flüssigkeitsvolumen von 15 Litern aus. Nehmen wir an, dass er einen Liter einer Lösung mit 8 mmol/l Kalium erhält. Die schlussendlich erreichte Kaliumkonzentration wäre demnach der Durchschnitt aus 6 mmol/l multipliziert mit 15 Litern und 8 mmol/l multipliziert mit 1 Liter, was einer Konzentration von 6,1 mmol/l entspräche. Das bedeutet, dass die Kaliumkonzentration um lediglich 0,1 mmol/l angestiegen wäre, um ehrlich zu sein, ein kaum messbarer Unterschied. Geht man weiterhin davon aus, dass sich Kalium in einem gewissen Gleichgewicht zwischen intra- und extrazellulärem Raum befindet (Kommentar: Natürlich im Rahmen des angestrebten Konzentrationsgradienten), so ist sein Verteilungsvolumen deutlich größer als das extrazelluläre Flüssigkeitsvolumen, wodurch der Kaliumanstieg nochmals geringer als 0,1 mmol/l ausfallen würde [Huggins et al 1950, Winkler et al 1938]. Das bedeutet, dass eine Flüssigkeit mit der doppelten Kaliumkonzentration im Vergleich zu Ringer-Laktat (~8 mmol/l) zwar theoretisch einen Anstieg des Serumkaliums verursachen könnte, es hierfür aber eine ziemlich große Menge an dieser Flüssigkeit bräuchte, um einen signifikanten Effekt zu haben.
Der schlussendlich wichtigste Grund, warum der Mythos falsch ist, hängt mit der Kaliumverschiebung zwischen den Zellen und der extrazellulären Flüssigkeit zusammen. Ungefähr 98% des Gesamtkaliums im Körper befindet sich in den Zellen, mit einer intrazellulären Kaliumkonzentration von ~140 mmol/l. Das hat zur Folge, dass bereits eine winzige Verschiebung aus dem intrazellulären Kompartment heraus eine große Auswirkung auf das extrazelluläre Kaliumlevel haben wird. NaCl 0,9% verursacht eine metabolische Azidose bei normaler Anionenlücke, was zur Folge hat, dass Kalium aus der Zelle heraus verschoben wird und somit zu einem Anstieg des Kaliumlevels führt. Auf der anderen Seite verursacht Ringer-Laktat keine Azidose, sondern hat vielmehr eine leichte Tendenz zur Alkalisierung, bedingt durch ein Äquivalent von 28 mmol/l Bikarbonat. Kaliumverschiebungen haben einen größeren Einfluss auf das Serumkalium als die Kaliumkonzentration in der zugeführten Infusionslösung.
Was ist mit klinischer Evidenz?
Es existieren drei randomisierte kontrollierte Doppelblindstudien, die die Auswirkungen von NaCl 0,9% und Ringer-Laktat auf das Kaliumlevel bei Patienten mit Niereninsuffizienz untersuchten. Da es im Bereich der Intensivmedizin unüblich ist mehrere, sich gegenseitig bestätigende, prospektive Studien zu haben, ist dies ein seltener Glücksfall.
O’Malley et al führten 2005 eine prospektive, randomisierte, kontrollierte Doppelblindstudie zu Ringer-Laktat vs. NaCl 0,9% zur intraoperativen i.v. Flüssigkeitstherapie während Nierentransplantationen durch. Primärer Endpunkt der Studie war die postoperative Kreatininkonzentration. Aus Sicherheitsgründen wurde die Studie frühzeitig nach der Zwischenanalyse der Daten von 51 Patienten beendet. In der NaCl-Gruppe entwickelten 19% der Patienten intraoperativ Kaliumlevel von >6 mmol/l, verglichen mit keinem in der Ringer-Gruppe (p=0,05; vgl. Abb. 1). Patienten aus der NaCl-Gruppe entwickelten auch häufiger eine metabolische Azidose, welche eine Bikarbonat-Therapie indizierte (31% vs. 0%, p=0,004). Die Autoren schlossen daraus, dass die Gabe von größeren Mengen Ringer-Laktat bei Patienten während einer Nierentransplantation sicher und insbesondere von Vorteil gegenüber NaCl 0,9% sei.

Abb. 1: Perioperative Kaliumkonzentration in mit (A) Ringer-Laktat und (B) mit NaCl 0,9% therapierten Patienten in mmol/l; O’Malley et al.

Abb. 2: Vergleich von (A) durchschnittlicher Kaliumänderung und (B) pH-Änderung während der Nierentransplantation zwischen den beiden Gruppen; Khajavi et al.

Abb. 3: Serum-Elektrolyte nach serieller Messung in den Studiengruppen. Angaben als Durchschnittswert +/- Standardabweichung; Modi et al.
Was ist mit Plasmalyte oder Normosol?
Schlussfolgerung
Der Mythos, dass Ringer-Laktat bei Hyperkaliämie vermieden werden sollte, ist nicht nur falsch, sondern vermutlich sogar ein Rückschritt. Für einen hyperkaliämen Patienten mit Niereninsuffizienz sollte Ringer-Laktat einer isotonischen Kochsalzlösung bevorzugt werden. Ringer-Laktat konnte in vivo zeigen geringere Kaliumlevel zu verantworten. Will man den Effekt von Kristalloiden auf die Serum-Kaliumkonzentration verstehen, so muss man die Auswirkungen auf den Säure-Base-Haushalt und die intrazelluläre Kaliumverschiebung berücksichtigen, welche bedeutender sind als die Menge an Kalium in der Plastikflasche.
Ringer-Laktat ist notwendigerweise nicht unbedingt die beste Infusionslösung für Patienten mit Hyperkaliämie. Bei hyperkaliämen Patienten mit einer metabolischen Azidose ist isotonisches Bikarbonat Ringer-Laktat wahrscheinlich überlegen, da es zu einer größeren Abnahme des Serumkaliums führt (vgl. hier). Desgleichen könnten bei diesen Patienten balanzierte Vollelektrolytlösungen Ringer-Laktat vorgezogen werden, da diese alkalisierender sind. Dennoch gibt es keine Kontraindikation zu Ringer-Laktat und es ist isotonischer Kochsalzlösung sicherlich vorzuziehen.
Super Artikel!
Ich verstehe nur nicht ganz, wie man bei der Beispielsrechnung mit dem 70kg Mann und einem Kalium von 6, der einen Liter Ringer bekommt auf die 6,1 mol/l kommt…könnten Sie mir dies kurz erklären bitte? Um wie viel würde bei einem 70kg Mann das Kalium ansteigen bei Infusion einer Ringer-Laktat Lösung mit 4mmol/l?
Vielen Dank!
Hallo Anna,
vielen Dank für deine Rückmeldung. Ich bleib jetzt einfach mal beim „du“, falls das für Sie in Ordnung ist. Um deine Frage zu beantworten würde ich dich bitten die Passage nochmal genau zu lesen: „Gehen wir beispielsweise von einem 70 kg schweren Mann mit einer Serum-Kaliumkonzentration von 6 mmol/l und einem extrazellulären Flüssigkeitsvolumen von 15 Litern aus. Nehmen wir an, dass er einen Liter einer Lösung mit 8 mmol/l Kalium erhält. Die schlussendlich erreichte Kaliumkonzentration wäre demnach der Durchschnitt aus 6 mmol/l multipliziert mit 15 Litern und 8 mmol/l multipliziert mit 1 Liter, was einer Konzentration von 6,1 mmol/l entspräche.“
Jetzt alles klar? Du hattest wahrscheinlich überlesen, dass er einen Liter einer Lösung mit 8 mmol/l erhält. Daraus folgt:
6mmol/l x 15l + 8mmol/l x 1l = 98mmol => 98mmol/16l = 6,125mmol/l.
Ich hoffe, ich habe mich jetzt nicht verrechnet. Das wäre nämlich peinlich.
[…] Ce dogme, ce mythe, entendu on ne sait combien de fois, a déjà été mis à mal en 2014 par Josh Farkas, et repris par des collègues français et allemand. […]