Es wird Abend in unserer kleinen Stadt und der Dienst in der ZNA von #dasHOSPITAL ist auf uns gefallen.
Die Nachtschicht beginnt einmal wieder mit dem Rettungsdienst (RTD), der einen komatösen Patienten vom Bahnhofsvorplatz bringt. Junger Mann, geschätzt Anfang Dreißig, nicht ansprechbar. Er war von der Bundespolizei aufgefunden worden, erschien alkoholisiert und war in Begleitung einiger Mitreisender, die kein Deutsch sprachen. Ausweispapiere waren nicht anzufinden und seitdem der RTD ihn gesehen hat, ist sein Bewustseinszustand zunehmend eingetrübt. Ein Sturz kann nicht sicher ausgeschlossen werden.
Klare Sache, denkt man sich - kurzer Check, ob er atmet, dann ab in die Zelle, ausnüchtern und morgen geht er aus der ZNA, wenn man sich mal zufällig umdreht… So läuft es oft und vielmals… Aber ist das die Behandlung, die ein Patient verdient? Und ist das der Anspruch, den wir an uns selber stellen? Ich habe mir ein paar Gedanken gemacht und will sie mit Euch durchgehen. Dafür habe ich den Post in vier Blöcke geordnet, wovon ich heute zwei beschreibe und zwei weitere in einem Folgepost veröffentliche.
Zum einen orientiere ich mich ein bisschen an den Gesetzen aus dem Klassiker “House of God” von Samuel Shem (Pseudonym), der zur Primärliteratur eines jeden Medizinstudierenden gehört. (Einschub: GOMER ist ein Akronym für Get Out of My Emergency Room). Zum anderen habe ich ein ernsthaftes Anliegen und tituliere die Kapitel mit 1. Hippokrates (“Gomers don’t die”), wobei es um gute Medizin geht. Dann folgt 2. Prozessorganisation (“Placement comes first”), um im 2. Post mit 3. Empathie und 4. Sucht (“The patient is the one with the disease”) abzuschließen.
Bevor ich mit unserem Patienten weitermache, möchte ich Euch bitten, beim Lesen dieses Posts keinen Alkohol zu trinken. Warum? Weil Alkohol das Erinnerungsvermögen einschränkt. Weiß jemand woran das liegt? Ist es so, weil Alkohol als Agonist am GABA- Rezeptor wirkt? Oder als Antagonist am NMDA-Glutamat- Rezeptor? Liegt es daran, dass Alkohol den Glukose- Metabolismus reduziert oder die Noradrenalin- Ausschüttung beeinflusst? Oder wird unser Belohnungssystem durch eine erhöhte Dopamin- Ausschüttung stimuliert? All das ist richtig und wichtig zu wissen, weil man dann die richtige Wahl an Medikamenten treffen kann, wenn man auf Probleme des massiven Alkoholkonsums und des Entzuges stößt. Das Erinnern aber wird von diesen fünf Punkten durch die antagonistische Wirkung des Alkohols am NMDA- Glutamat Rezeptor eingeschränkt. Darauf könnt Ihr Euch jetzt nicht mehr berufen…
Also, ablagern in der Zelle und auf das Beste hoffen geht nicht. Wir beginnen ja jetzt mit 1. Hippokrates. Was also dann? Versuchen wir’s mit guter Notfallmedizin. Und die fängt bekanntermaßen mit ABCDE und den Vitalparametern an. Der Patient atmet frei mit einer Atemfrequenz (AF) von 18/min, Sauerstoffsättigung 98% unter Raumluft, RR 134/89 mmHg bei einer Pulsfrequenz von 109/min. GCS 7 (motorisch: ungerichtete Abwehr (4), verbal: unverständliche Laute (2), Augen: keine Öffnung (1)), Körpertemperatur 36,2°C. Des Weiteren bestimmen wir den Blutglucosespiegel mit 5,5 mmol/l (99 mg/dl). Die körperliche Untersuchung muss, so leid es einem tut, bei möglichst entkleidetem Patienten erfolgen. In diesem Fall wehrt er sich auch nicht. Es sind keine äußeren Verletzungen feststellbar. Insbesondere am Schädel nicht. Die Hose ist nass vom Urin. Die Pupillen sind mittelweit mit einer sehr verzögerten Lichtreaktion. Der Patient fixiert nicht. Er riecht aber auch nicht explizit nach Alkohol. Was bei mir zu der Frage führt: Warum ist der Patient komatös? Hat er eine Mischintoxikation? Einstichstellen sind nicht zu finden, die Pupillen nicht eindeutig. Was kann ich jetzt Gutes für den Patienten tun und wie herausfinden, was sein Problem ist? Intubation und Beatmung bei GCS 7? Hilft mir bei seinem Neuro-Status nicht weiter, zumal man einen Schluckreflex provozieren kann. Ich entscheide mich erstmal dagegen, solange er auf dem Niveau stabil bleibt. Im Prinzip müsste ich jetzt die komplette Differenzialdiagnostik der unklaren Bewusstlosigkeit durchgehen. Einen zerebralen Prozess ausschließen, ob infektiös, entzündlich, hämorrhagisch, ischämisch, traumatisch, metabolisch, postiktal oder was weiß ich noch alles. Die Intoxikation steht noch immer ganz oben auf der Agenda, deshalb bestimmen wir erstmal den Blutalkohol und Entzündungsparameter und ich mache mir noch einmal Gedanken zum Schädel-Hirn Trauma. Gab es eine Gewalteinwirkung? Wir wissen es nicht. Ist der Patient komatös? Ja. Fehlt uns noch ein klinisches Zeichen? Müssen wir Hinweise auf eine Schädelbasisfraktur haben? Oder Erbrechen oder ein fokal neurologisches Defizit? Er hat zumindest keine Hirnstamm- Zeichen. Ich will nichts verpassen und entscheide mich für ein cCT. Die Canadian Head- Rule lässt sich sowieso nicht anwenden (gilt u.a. nur bei GCS 13-15) und verschiedenste intrakranielle Prozesse können durchaus mit Koma bei erhaltender Spontanatmung einhergehen. Um es kurz zu machen: Keine Pathologie im cCT zu sehen. Und zu guter Letzt erreicht uns das Labor mit der Nachricht von 6,6 ‰ Blutalkohol. Das liegt ja schon außerhalb der Stadieneinteilung der Alkoholintoxikation. Ab spätestens 3,7 ‰ kann der Alkoholkonsum tödlich sein. Hier bestätigt sich das erste Gesetz aus „House of God“: Gomers don’t die“. Auf jeden Fall erklärt das den komatösen Bewusstseinszustand. Ein Medikament gebe ich dem Patienten jetzt doch noch: Thiamin 100 mg i.v. ist indiziert bei bewusstseinsgetrübten Patienten mit Alkoholintoxikation zur Prophylaxe einer Wernicke Enzephalopathie. In diesem Zustand verlege ich ihn auf die ITS. Mit Delir hat das jetzt nichts mehr zu tun, eher mit Narkose… Nichtsdestotrotz gibt es Patienten, die in der Phase der Ernüchterung delirante Symptome zeigen. Unruhe, Schwitzen, Agitation, Halluzination oder aber auch hypoaktive Formen… bei den meisten Patienten gibt es Mischformen, was mit der Zunahme der exzitatorischen Transmitter, wie Noradrenalin, Glutamat und Dopamin zu tun hat, wenn der dämpfende Alkohol-Spiegel fällt. Man kann versuchen, den Patienten zu entlassen, bevor er entzügig wird und gar einen Krampfanfall bekommt. Man kann ihm aber auch die geeigneten Medikamente geben, bevor die Symptomatik beginnt. Denken wir doch noch einmal zurück an die Rezeptoren, an denen Alkohol wirkt… Man kann GABA-Rezeptor-Agonisten einsetzen, wie z.B. Benzodiazepine oder mit etwas schwächerer Evidenz Clomethiazol zur zentralen Dämpfung. Ich persönlich nutze gerne den zentralen α2-Rezeptor-Agonisten Clonidin zur Kontrolle der vegetativen Symptomatik und wenn es psychotisch wird, können D2-Rezeptor-Antagonisten in der Form von Haloperidol bei produktiv-psychotischer Symptomatik zum Einsatz kommen (wirkt außerdem schwach antihistaminerg und anticholinerg).
Nachdem wir also diesen Patienten erfolgreich der Intensivstation übergeben haben, kommt natürlich wieder einmal der Rettungsdienst mit dem nächsten Patienten. Hierbei handelt es sich um ein 45-jähriges Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr. Der Patient wird von einem Dorffest gebracht. Dort war er offensichtlich alkoholisiert gestolpert und in die Glut des Feuers gefallen, auf das er und seine Kollegen aufpassen wollten. ABC ohne Pathologie, D intoxikiert, GCS 13 (motorisch: befolgt Aufforderungen (6), verbal: desorientiert (4), Augen: Öffnen auf Aufforderung (3)), E Verbrennungen Grades 2a° bis 2b° von ca 3% der Körperoberfläche am linken Unterarm volar. Er bekommt Analgesie und die Bestimmung des Blutalkohols ergibt 2,4 ‰. Wie soll es mit ihm weitergehen? Nach dem 5. Gesetz von „House of God“ („Placement comes first“) ist ja die Verlegung des Patienten eines der wichtigsten Dinge, an die man in der Notfallmedizin denken muss. Die selbe Meinung hat auch sonst jeder, der in einer Notaufnahme arbeitet, nur nicht die aufnehmende Abteilung. Also stellt sich die Frage: Ist der Patient überwachungspflichtig? Kann er nach Hause entlassen werden, wenn ihn jemand abholt? Oder muss ich den Kollegen der Intensivstation schon wieder fragen, ob er mir einen alkoholisierten Patienten abnimmt? Zum einen kann man sich grob am Blutalkohol orientieren. Je höher, desto mehr Überwachung. Ab weniger als 1 Promille können die meisten Patienten in die Häuslichkeit entlassen werden, wenn eine Begleitperson dabei ist. Ab zwei Promille sollte man einen Patienten monitoren und spätestens ab einer potentiell letalen Dosis (grob 4 ‰) intensivüberwachen. Da die individuellen Toleranzen sich mit der Gewöhnung üblicherweise ausweiten, hilft es sehr, sich zusätzlich auch an der Klinik zu orientieren. Einfach gesagt: Wer gehen kann, kann gehen. Die Vitalparameter sollten Norm sein und der Patient orientiert. Wer nicht gehen kann, muss bleiben. Diese Patienten sind auch meistens nicht ausreichend wach, aber erweckbar. Hier sollte man einem Protokoll folgend im Intervall die Pupillen und den GCS prüfen und dokumentieren. Eine bodennahe Lagerung, um schwerwiegende Sturzfolgen zu vermeiden, wird in den meisten Notaufnahmen angewandt und ist auch in der Literatur empfohlen. Nicht erweckbare Patienten sind schon kritisch und müssen gemonitort werden. Bei ausreichenden Schutzreflexen kann das auf einer Intermediate Care – Station oder in der ZNA erfolgen, wenn ggf. Atemwegsmanagement gefordert ist, weil die Schutzreflexe nicht ausreichen, dann ist eine Intensivstation der richtige Ort für diese Patientengruppe. Was machen wir also mit dem freiwilligen Feuerwehrmann? Sowohl vom Alkoholpegel, als auch von der Klinik her gehört er an einen Monitor. Bedauerlicherweise wird er zunehmend wach, fängt an, das Monitoring abzunesteln und von der Trage zu steigen. Er ist aber nicht in der Lage sich zu sonstigen Sachverhalten klar und deutlich zu äußern und es fehlt ihm die Koordination sich auf den Beinen zu halten. Er verhält sich zunehmend unkooperativ und verlangt nach Hause entlassen zu werden. Tja, dann muss ihn wohl einer abholen und er kann gegen ärztlichen Rat gehen, immerhin kann er diesen Willen zum Ausdruck bringen. Aber so einfach ist das nicht. Ist der Patient in dem Zustand überhaupt einwilligungsfähig? Aus juristischer Sicht besteht definitiv keine Einwilligungsfähigkeit bei einem Blutalkoholspiegel von 3‰ und mehr. OK, hat er nicht. Jetzt müssen wir entscheiden: Kann er Art, Bedeutung, Tragweite und Risiken der ärztlichen Maßnahme erfassen, die Informationen verstehen und eine eigene Nutzen-Risiko-Abwägung bzw. Bewertung vornehmen? Diesen Eindruck macht er auf mich nicht. Jetzt sind wir gekniffen. Durch die Garantenstellung gegenüber den Patienten als angestellter Dienst-Arzt bin ich verpflichtet, zu handeln und somit einen Schaden vom Patienten abzuwenden. Nach Abwägung der Rechtsgüter greift hier der rechtfertigende Notstand (§34 StGB) und erlaubt mir den Patienten zu fixieren, sei es medikamentös oder physisch, bis er seine Einwilligungsfähigkeit wiedererlangt hat. Also bleibt er erstmal bei uns in der ZNA. Da er Anzeichen eines Delirs entwickelt hat, schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe und verabreiche 3 mg Midazolam und 150 µg Clonidin i.v.. Damit hat er seinen stationären Aufenthalt gebucht und ich telefoniere mit der IMC.
Jetzt stellt sich im Sinne des Prozessmanagements nur noch die Frage, was machen wir mit alkoholisierten Patienten, die keine Indikation zur stationären Aufnahme und die keine Begleitpersonen haben, die sie mit nach Hause nehmen? Das gleiche, was wir mit alkoholisierten, unkooperativen Patienten machen, die nicht monitoring-pflichtig sind: Gewahrsamstauglichkeit bescheinigen und ad POL. Das kommt natürlich auch sehr auf die Gepflogenheiten und örtlichen Absprachen an. Sicher ist, dass eine einfache Ausnüchterung keine allgemeine Krankenhausleistung ist und somit ausserhalb unseres Geschäftsbereiches fällt. Es gibt Rettungsdienstbereiche, in denen schon präklinisch durch den Notarzt die Entscheidung getroffen wird, ob eine hilflose Person dem Obdachlosenheim, der Polizei oder der Rettungsstelle zugeführt wird.
Soviel für heute.
xaqu1n
Alkohol: Intoxikation und Prozedere

Vielen Dank für den klasse Artikel zu einem wirklich sehr wichtigen Thema! Wirklich sehr praxisnah dargestellt anhand von 2 Beispielen.
Ein paar Fragen hätte ich dennoch;
1. Thiamin bei allen (relevant) C2-Intoxikierten auch wenn kein chron. Abusus bekannt ist (Bsp. 19-Jähriger nach 18er Party eines Freundes)?
2. Immer wieder stellt sich die Frage (teilweise auch auf Drängen der Pflege), welcher Patient denn jetzt wirklich in der NA überwacht werden muss und welcher Pat. den Polizisten direkt wieder mitgegeben werden kann in die Ausnüchterungszelle, falls gleichzeitig (wie ja öfters der Fall ist) ein polizeiliches Delikt vorliegt. Ein heißes Eisen ist m.E. hier die Prüfung der Gewahrsamstauglichkeit. Ich habe hier ständig das Gefühl mit einem Bein selbst im Knast zu stehen, da es leider keinerlei harte Kriterien/Algorithmen (mal abgesehen von tieferer Bewusstlosigkeit oder schweren Verletzungen - logisch) hierfür gibt. Welche Untersuchungen/Kriterien sind hier strikt durchzuführen/zu beachten? Gerade für unerfahrene Assistenten (wie mich) stellt dies im Nachtdienst, wenn man allein ist, immer wieder vor Herausforderungen.
3. Soll man bei schwerer C2-Intoxikierten mit Vigilanzminderung immer auch ein Drogenscreening machen, ergo Katheterisierung?
Ich würde mich sehr freuen, wenn du hier ein paar Tipps für mich hättest!
Beste Grüße,
Stefan
Hallo Stefan, vielen Dank für deinen Kommentar.
Ich halt mich kurz, da im Urlaub..,
Ad 1. Thiamin kann man sicherlich Kontextbezogen geben, wobei der Nutzen im Zweifel den Schaden sicher überwiegt.
Ad 2. Gewahrsamstauglichkeit sollte protokollbasiert bescheinigt werden. Damit werden durch die Abteilungsleitung Standards definiert und Dir als junger Assistent eine Orientierungshilfe gegeben. Platt gesagt, solltest du nur etwas bescheinigen, bei dem du das Gefühl hast, dass der Patient auch ohne dich überlebt.
Ad 3. Mischintoxikationen sind nicht selten und ein Drogenscreening oft hilfreich. Auch hier gilt die Risikoabwägung von potentiellem Schaden zu Nutzen.
Hoffe ich habe dir in der Kürze helfen können und komme auf weiter Fragen gerne zurück
Liebe Grüsse
Joachim