Wochenenden sind für Andere – auch am Samstagmorgen müssen wir zum Frühdienst in die Rettungsstelle von #dasHOSPITAL. Bei der morgendlichen Übergabevisite wird uns Billy vorgestellt. Ein 39- jähriger Mann, der den Freitagabend mit seinen Kumpels unterwegs war. Er habe zu viel getrunken, war nicht mehr orientiert und ansprechbar und da seine Freunde auch nicht mehr wussten, was sie mit ihm anfangen sollten, haben sie den Rettungsdienst gerufen. Dieser habe ihn heute morgens gegen 2°° Uhr in die Notaufnahme gebracht, die Vitalparameter waren im Normbereich, der GCS bei 13 und der Blutalkoholwert lag nachts bei 1,9 ‰. Gehen oder Stehen konnte er nicht mehr und da keine Telefonnummer von Angehörigen vorlag, wurde er auf der Matratze in der Zelle gebettet, um auszuschlafen. Bei den regelmäßigen Vigilanzkontrollen war nichts aufgefallen und jetzt regt er sich und kommt verlegen und mit einem Kater heraus. „Oh“, sagt er, „es tut mir so Leid, dass ich Umstände gemacht habe. Ich muss mit dem Saufen aufhören, so geht es nicht weiter. Ich habe so ein schlechtes Gewissen, Ihnen gegenüber, Sie haben sicher Wichtigeres zu tun…“ Er bittet darum, dass wir ihm ein Taxi rufen, damit er nach Hause fahren kann.
Hier geht der zweite Teil unserer Kurzserie zu Alkohol in der Notaufnahme weiter.
Im ersten Teil hatte wir die Notfallmaßnahmen bei akuter Alkoholintoxikation und das Prozessmanagement beschrieben. In diesem Post geht es um Sucht und Empathie. Beides Themen, mit denen wir in einer Rettungsstelle umgehen können müssen, es oft genug aber an Wissen und Willen mangelt…
Fällt euch noch etwas zu Billy ein, bevor er geht? Ist die Story schon zu Ende, weil er jetzt nach Hause fährt? Für mich nicht, da mir zwei Punkte aufgefallen sind, die der Patient erwähnt hat… Erstens „Cut down“ und zweitens „Guilty“. Na, klingelt es bei dem Einen oder Anderen? Was war C.A.G.E. noch einmal? Eine Screeningmethode, um riskanten Alkohokonsum zu entdecken und dann weitere Tests durchzuführen. Damit kann dann das Risikoprofil des Alkoholkonsums quantifiziert werden. Wer zwei oder mehr Fragen mit „Ja“ bei C.-A.G.E. beantwortet, hat ein erhöhtes Risiko. Haben Sie schon einmal daran gedacht weniger zu trinken („Cut down“)? Haben Sie sich schon einmal schuldig gefühlt wegen des Trinkens („Guilty“)? Ja, hat er gerade gesagt. Die beiden weiteren Punken fragen ab, ob man sich ärgert, wenn man auf seinen Alkoholkonsum angesprochen wird („annoyed“) und ob man schon morgens Alkohol trinkt („eye-opener“). Im Prinzip müsste man jetzt einen AUDIT (Alcohol Use Disorder Identification Test) durchführen, um das Risikoprofil einzuschätzen, soweit gehe ich jetzt aber nicht. Ich nehme trotzdem die Gelegenheit wahr, mit ihm über sein Risikoverhalten zu sprechen, bis das Taxi kommt.
Es gibt US-amerikanische Notaufnahmen, die bei allen Trauma-Patienten ein Screening auf Alkohol und Drogen machen und dann bei allen Patienten mit einem Risikoprofil eine Kurzzeitintervention durchführen. Hierbei wird durch geschulte Mitarbeiter (Ärzte/Pflege/Sozialarbeiter) über Gesundheitsschäden aufgeklärt, um eine Verhaltensänderung zu bewirken. Die meisten Patienten gehen dann nach Hause. Dieses Beratungsgespräch kann auch nur 5-15 Minuten dauern und ist trotzdem effektiv, um bei einigen den Alkoholkonsum zu reduzieren. Insbesondere Rauschtrinker („Binge-drinking“) und Patienten mit riskantem Alkoholkonsum profitieren davon. In diesem Gespräch kann bei Bedarf auf die Drogenberatung verwiesen werden oder auch ein Entzug angeboten werden. Für dieses Prozedere gibt es das Akronym „SBIRT“ (Screening/Brief Intervention/Referral/Treatment). Zentral ist hierbei das „motivierende Gespräch“. Man sollte Empathie ausdrücken, Missstände benennen, sich nicht auf Diskussionen einlassen und die Eigenmotivation des Patienten stärken. Nach dem transtheoretischem Modell zur Verhaltensänderung sind insbesondere diejenigen beeinflussbar, die sowieso schon dabei sind, Pro- und Contra- Argumente zu sammeln, um das eigene Trinkverhalten zu verändern. Rettungsstellen kommt hierbei eine gesellschaftspolitische Verantwortung zu. Gerade bei Jugendlichen weiß man, dass sich Konsummuster bis in das Erwachsenenalter verfestigen können. Somit ist diese Kurzeitintervention gut investierte Zeit. Bei einer bestehenden echten Alkoholabhängigkeit ist der Nutzen des Gespräches aber nicht nachgewiesen. Sollte sich ein Alkoholiker zu einem Entzug entscheiden, sollte man ihm möglichst nicht zu einem kalten Entzug raten. Einen kalten Entzug könnte man sogar, auf Grund der extrem hohen Rückfallquote, als Kunstfehler bezeichnen. Der Entzug muss qualifiziert medizinisch begleitet werden. Hierbei werden abschirmende Medikationen eingesetzt plus psychosozialer und/oder psychotherapeutischer Intervention plus Selbsthilfegruppen, wie z.B. die Anonymen Alkoholiker. Zusätzlich kann noch eine Dauermedikation notwendig sein, die den Suchtdruck mindert. Viele Patienten sind dankbar, wenn ihnen der Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Gesundheitsschäden aufgezeigt wird. Ein motivierendes Gespräch hat Wirkung. Vielleicht ist die NNT nicht 1. Aber aus Public Health-Sicht führt weniger trinken zu weniger Schäden.
Da der Tag mit einem erfolgreichen Gespräch begonnen hat, schaue ich mir jetzt die beiden Patienten an, die in der Zwischenzeit in der Notaufnahme angekommen sind. Hier sind zum einen die 58-jährige Palliativpatientin mit der seit drei Tagen progredienten Atemnot und dem metastasiertem Mamma-Karzinom. Sie hat mehrfach erbrochen, macht einen leicht verwirrten Eindruck und wurde von der Triage-Pflegekraft in den Monitoring-Bereich gelegt. Hier hat man sie gesäubert und jetzt liegt sie mit frischer Wäsche auf einer Patiententrage unter einer Decke. Der zweite Patient ist ein regelmäßig wiederkehrender Alkoholiker, Karl, der von Passanten hilflos an einer Bushaltestelle aufgefunden wurde und den der Rettungsdienst stark alkoholisiert zu uns gebracht hat. Der Patient sitzt halb schlafend mit vollgepisster Hose in einem Rollstuhl auf dem Flur. Manchmal hebt er die Hand, wenn jemand an ihm vorbeigeht und stößt unverständliche Laute aus. Kommt einem irgendwie bekannt vor und hat sicher jeder, der in einer Notaufnahme arbeitet, schon einmal gesehen. Erstaunlicherweise stimmen die Vitalparameter bei beiden Patienten überein. (A AF 18/min, B Sätt. 96%, C HF 98/min, RR 113/64 mmHg, D GCS 14 (A: spontan 4/ S: desorientiert 4/ M: gezielt 6), E 36,1°C). Was macht also den Unterschied aus? Warum lassen wir den Einen in seiner Pisse sitzen und legen die Andere in ein sauberes Bett? Warum wird ein Patient schlechter behandelt, wenn Alkohol im Spiel ist? Interessanterweise denken ja viele Menschen, auch in medizinischen Berufen, dass Alkoholiker „selber Schuld“ sind an ihrer Krankheit. Was Fakt ist, ist dass nicht jeder, der Alkohol (oder andere berauschende Substanzen) zu sich nimmt, davon abhängig wird. Die Wenigsten konsumieren gar nichts. Ca. 80-95% der Bevölkerung nehmen gelegentlich zum Spaß oder zur Entspannung Alkohol zu sich. Darunter sind 10-30%, die gewohnheitsmäßig und bis zu 10%, die zwanghaft trinken. Die Gründe, die zur Abhängigkeit führen, sind vielfältig. Grob zusammenfassend kann man von einem „Reward Deficency Syndrom“ sprechen, zu deutsch, einer Störung des inneren Belohnungssystems. Das kann genetisch bedingt sein durch Mutationen an den verschiedenen Rezeptoren, wie dem Dopamin- oder dem Glutamat-NMDA- oder dem GABA-Rezeptor. Die Gründe können möglicherweise sogar bei intrauterinem Stress in der Pränatalphase liegen. Des Weiteren können soziale Faktoren eine Rolle spielen, aber auch psychosoziale Traumata oder ADHS. Die Abhängigkeit wird als Zwang beschrieben, Alkohol zu konsumieren. Die Einnahme kann nicht kontrolliert werden, Entzugssymptome können auftreten, wenn nicht konsumiert wird. Andere Vergnügen werden vernachlässigt und trotz des Nachweises von schädlichen Gesundheitsfolgen wird der Konsum nicht eingestellt. Dies lässt die Frage aufkommen, ob fortgeschrittene Alkoholiker, die nicht entziehen wollen oder können, nicht auch mit einem palliativen Therapieansatz behandelt werden sollten. Es gibt Patienten, bei denen die Alkoholkrankheit nicht geheilt werden kann. Der kurative Ansatz schlägt fehl. Sollte man nicht auch dem chronisch Alkoholkranken mit Mitgefühl begegnen? Bei einer progredienten, fortgeschrittenen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung liegt der Fokus auf Symptomkontrolle. Linderung von Schmerzen, Unruhe, Leid. Das Ziel ist ein beschwerdearmes, erträgliches Leben trotz schwerer Erkrankung. Sprich: Die Lebensqualität. Wenn man das bedenkt, dann setzt man den nächsten alkoholisierten Patienten vielleicht nicht vollgepisst in einen Rollstuhl. Unterm Strich ist das nicht einmal von einer palliativen Situation abhängig. Sondern von allgemeiner Menschlichkeit.
Karl wird also ausgezogen, gesäubert und auf eine saubere Matratze gelegt, damit er ausschlafen kann, bis er wieder geht.
Es gehört schon Überzeugungskraft dazu, so etwas durchzusetzen. Aber es lohnt sich.
xaqu1n
Mein Dank gilt Dr. Tilman Kinkel, der als ausgewiesener Suchtexperte mit kritischer Diskussion und Anregung großen Einfluss auf diesen Post hatte.
Literatur:
AWMF: Alkoholbezogene Störungen: Screening, Diagnose und Behandlung
Hans FP. Akute Alkoholintoxikation: Vorgehen bei Erwachsenen und Jugendlichen aus Notfall Rettungsmed 2016.19:12–21
Babor TF. Screening, Brief Intervention, and Referral to Treatment (SBIRT): toward a public health approach to the management of substance abuse. Subst Abus. 2007;28(3):7-30.
Sucht und Empathie in der Notaufnahme

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