Wie bist Du zur Notfallmedizin gekommen?
Marc: Reiner Zufall - ich wollte nie Mediziner werden. Bei mir fing die Karriere 1994 nach dem Abitur mit dem Zivildienst an. Ich kannte die Medizin bis dato nicht und hatte auch, wie gesagt, nie vor in die Branche zu gehen. Deshalb hatte ich auch Biologie und Chemie in der Oberstufe abgewählt. Nun auf einmal, hinten im Rettungswagen, machte die Pathophysiologie in Kombination mit dem zwischenmenschlichen Kontakt auf einmal Sinn. So war es nach dem Zivildienst für mich klar, dass ich alle meine Pläne über den Haufen werfe und in der Notfallmedizin weiter machen will. Damals kam gerade der Rettungsassistent auf und ich habe mich entschieden diese Berufsausbildung zu machen und nach München zu gehen. In München habe ich für einen privaten Anbieter und später, neben dem Medizinstudium, auch auf der Rettungswache in Überlingen zusätzlich ehrenamtlich gearbeitet. Natürlich kommen während des Studiums auch Fragen auf: “Was will ich mal machen?”. Die Notfallmedizin gab es in dieser Form in Deutschland nicht und die großen, klassischen Fächer haben mich nie gereizt. Bis dann eines Tages einer gesagt hat: “Das Schnelle, das liegt Dir, mach doch einfach mit Notfallmedizin weiter!”.
Und dann fiel die Entscheidung, nach Australien zu gehen?
Marc: Nein, natürlich nicht, es war - ist ja leider nicht so einfach. Meine Überlegung war, dass in Deutschland die Anästhesie der Notfallmedizin noch am nächsten ist, somit habe ich natürlich hier meine Famulaturen und Praktika gemacht. Gerade so Maßnahmen wie die Intubation waren dann ja auch Dinge, die ich dann schon während des Studiums im Rettungsdienst selbstständig durchführen wollte und konnte. Aber die Anästhesie hat mich ansonsten weiter nicht gereizt. Die Intensivmedizin als Teilaspekt, die ja ebenfalls in Deutschland keine eigenständige Fachrichtung ist, war zwar ebenfalls interessant, aber eben nicht das was ich machen wollte. Ich habe also nicht gewusst wie ich weiter machen sollte. In München gab es damals eine Notaufnahme in Schwabing - von der hieß es, die wäre schon sehr fortschrittlich - und zumindest auf dem Eingangsschild hieß es, dass es eine Zentrale Notaufnahme wäre. In der Realität wurde hinten dann doch in rechts: internistisch und links: chirurgisch getrennt und die pädiatrischen Notfälle wurden 200m die Straße weiter runter im Gebäude versorgt.
Obwohl es zentral war, war es nicht so ganz das, was ich mir vorgestellt habe. Es war zwar ein super Einstieg und wir waren ein sehr gutes, junges Team. Ich habe die Zeit sehr genossen, aber es war auch klar, dass dies nicht der richtige Weg ist. Dort konnte ich leider auch nicht mit der Notfallmedizin weitermachen: ich war auf der Intensivstation, aber der Punkt war, dass ich weder Internist noch Anästhesist werden wollte. Und dann kam der Gedanke mit Australien auf. Als ich im Praktischen Jahr am Inselspital in Bern war, ist jemand von dort nach Australien gegangen. Daran habe ich mich erinnert und geschaut was in der Welt notfallmedizinisch geboten wird. So formte sich erstmal der Gedanke ins Ausland zu gehen, mit meiner heutigen Frau Kerstin zu reisen und die Notfallmedizin im Ausland zu “beschnuppern”.
dasFOAM: Und wo hast Du zuerst “geschnuppert”?
Marc: Natürlich ist die Frage, wohin man ins Ausland geht. Meine Frau war ein Jahr in Italien, dort hat man einen wunderbaren Lebensstil, aber arbeiten wollte ich da nicht und ich wollte auch nicht italienisch lernen. Mein medizinisches Wissen war schon umfangreich, und ich bin nicht besonders sprachbegabt. Somit war klar, dass es ein englischsprachiges Land sein sollte. Da war natürlich England hoch im Kurs, aber ich dachte mir, ich komme vom Bodensee, da war England keine Option. Die Vereinigten Staaten waren ebenfalls eine Alternative, ich habe öfters dort Urlaub gemacht, jedoch hat mich die politische und gesellschaftliche Situation von dem Schritt in die USA abgehalten. Kanada habe ich irgendwie auf dem Radar komplett liegen gelassen, Südafrika wäre auch sehr spannend, viele penetrierende Traumata. Aber ich wollte auch eine Balance im Leben haben und habe auf Reisen gemerkt, dass mir die Sicherheit, die man in Deutschland hat, sehr sehr viel wert ist. Ich war im Studium ein Semester in Neuseeland und dort hatte es mir sehr gut gefallen. Es ist jedoch ein sehr kleines Land, und viele Neuseeländer wandern nach Australien aus. Da dachte ich mir: Australien - da war ich noch nie - und dann ging es nach Australien.
dasFOAM: Und wie ist bei Euch am Alfred’s Hospital die Notaufnahme im Vergleich zu der damaligen Notaufnahme in Schwabing aufgebaut?
Marc: Vorne steht wie in Schwabing “Zentrale Notaufnahme” drauf. Es gibt nur einen Eingang, wo es mit einer Art Triage startet, die wir allerdings aus Zeitgründen im “streaming” machen, um einfach schneller durch zu kommen. Alle, die laufen können, kommen also vorne rein, während die Rettungswägen die ZNA von hinten anfahren. Und dann gibt es verschiedene Abschnitte.
Wir haben eine relativ hohe Facharztdichte. Wenn die Schicht morgens anfängt, dann sind drei Fachärzt*innen, fünf Ärzt*innen in Weiterbildung und drei Residents (Ärzt*innen im Praktikum von Jahr eins bis drei, die sich noch nicht für eine Facharztausbildung entschieden haben) vor Ort. Außerdem haben wir mehrere Nurse Practitioner, also Krankenpfleger*innen mit erweiterter Ausbildung. Diese versorgen bei uns die meisten Verletzungen, die Muskeln und Gelenke betreffen, außerdem ist auch ein Physiotherapeut im Einsatz. Das unterscheidet die ZNA in Melbourne auch von der damaligen ZNA in Schwabing: wir waren damals in Schwabing alles unerfahrene Ärzte und es war nur sehr bwenig Facharztwissen vorhanden. Das ist in Melbourne komplett anders.
Wenn wir zur räumlichen Aufteilung zurückkommen: es gibt einen “Fast Track”-Bereich für alle Verletzungen, bei denen man denkt, dass man sie schnell und in kurzer Zeit abwickeln kann und die keine Blutentnahme benötigen. Das sind z.B. Schnittwunden oder Distorsionen. Dann gibt es eine “Rapid Assesment Zone”, wo ein Facharzt, zwei oder drei Assistenzärzte und mehrere AiP’ler*innen die Patient*innen möglichst schnell untersuchen, bewerten und herausfinden wie problematisch die Situation ist. Sie schauen, wie die Patienten weiter behandelt werden: ob die Patienten aufgenommen werden müssen, nur Kurzlieger sind bzw. eventuell auch direkt am gleichen Tag noch entlassen werden können. Alle zeitkritischen Patienten gehen durch den Hintereingang: hier ist Platz für 10 Rettungswägen und notfalls auch zwei oder drei Hubschrauber. Darüber können die vier internistischen und sechs chirurgischen Schockräume direkt erreicht werden.
dasFOAM: Ist die Notaufnahme bei Euch streng in chirurgisch/internistisch getrennt? Oder ist das Leitmotiv “immer - Jede*r - alles”?
Marc: Nein, wenn Du im Zentralbereich bist, arbeitest Du nach dem Motto “jede*r - immer - alles”. Auch wenn wir keine Pädiatrie haben, kommen zu uns Kinder, die dann entsprechend behandelt werden können. Gleiches gilt für die Gynäkologie: auch wenn wir primär keine Abteilung haben, behandeln wir Schwangere im Notfall. Du kannst also bei uns das komplette Spektrum der Notfallmedizin sehen.
Als Oberarzt wirst Du täglich wechselnd spezifisch für einen Bereiche in der Notaufnahme zugeteilt (z.B. Fast Track oder internistischer Schockraum). Wenn dann in deinem Bereich mal weniger zu tun sein sollte, gehst Du in den Zentralbereich und hilfst dort aus.
dasFOAM: Du hast jetzt schon etwas über die verschiedenen Ausbildungsstufen geredet, wie läuft generell die Ausbildung zum Facharzt für Notfallmedizin in Australien ab?
Die Notfallmedizin als Fach ist in Australien seit den achtziger Jahren etabliert und ist seitdem rasant gewachsen. Sie stellt mittlerweile die größte Facharztrichtung in Australien. Nach dem Studium arbeitest Du als Junior Doctor in vorgegebenen Rotationen, z.B. wenn Du dich für Intensivmedizin interessierst, dann würdest Du vor allem Zeit hier und eventuell im Bereich Trauma verbringen. Wenn Du eher in Richtung Innere Medizin willst, dann würdest Du natürlich die typischen Fächer von der Onkologie über die Nephrologie bis hin zur Kardiologie durchlaufen. Diese Rotationszeit geht bei den meisten zwei bis drei Jahre, dann kann man sich bei einem College bewerben, um Facharzt zu werden. Die Colleges sind vergleichbar mit den Fachgesellschaften, die man aus Deutschland kennt. Wichtig zu wissen: man braucht heutzutage eine “permanent residency (dauerhafte Aufenthaltserlaubnis)”, um bei einem College aufgenommen zu werden können. Damit ist es um einiges schwerer die Facharztausbildung als Europäer*in in Australien zu absolvieren.
In die Notfallmedizin als Fachrichtung kommt man nach den drei Jahren Rotationszeit sehr gut rein. Die Ausbildung selbst beinhaltet mehrere Prüfungen. Dabei ist die erste Prüfung nach ein zwei Jahren eine sehr theoretisch gehaltene Prüfung und ist eine “Hürde”, die mit den Physikum zu vergleichen ist. Danach kommt man in den “advanced” Bereich und rotiert durch die Notaufnahme, Anästhesie und Intensivmedizin sowie mehrere Wahlfächer. In jedem Teil der Ausbildung gibt es verschiedene Prüfungen und auch im laufenden Betrieb wird geprüft. Beispielsweise wir nach der Reposition einer Schulterluxation im Anschluss der zuständigen Oberarzt nach einer Bewertung gefragt. Im Rahmen der Facharztausbildung muss man ein Paper veröffentlichen oder zwei Semester nochmals Epidemiologie studieren. Ganz am Ende der Facharztausbildung folgt dann die theoretische und praktische Prüfung, auf die man sich ca. ein Jahr vorbereiten sollte. Bei mir sind damals 70% durchgefallen. Das sind keine Zahlen die ich aus Deutschland kannte, hier war es ja eher so, dass, wenn der Chefarzt sagt, man sei facharztreif, man auch zu 90% die Prüfung bestand.
dasFOAM: Würdest Du auch sagen, dass sich die Lehre in Australien von Deutschland unterscheidet?
Marc: Als kurzes Beispiel: wenn an der Uni in Deutschland jemand kurzfristig ausgefallen ist, dann musste jemand von der Abteilung den Unterricht übernehmen. Wenn dies bei uns in Australien passiert, dann übernimmt der Chef persönlich. Die Lehre hat einfach einen anderen Stellenwert. Ich möchte Deutschland nicht schlecht machen, aber die Qualität der Ausbildung war nicht besonders hoch. Man hat durch das Übernehmen von Verantwortung gelernt und ist ein bisschen kopfüber rein gekommen. Man hat sich bemüht das Wissen selbst anzueignen und es gab Fortbildungs-veranstaltungen, die man besuchen konnte. In Australien dagegen hat man wöchentlich fünf Stunden bezahlte Pflichtfortbildung. Bei uns ist das immer Mittwochs für die Weiterbildungsassistenten, und es wird darauf geachtet, dass alle da sind. Es ist meist ein buntes Programm, welches häufig von Abteilungsleitern gestaltet wird. Meist wird dann noch das letzte Drittel der fünf Stunden für die spezifische Vorbereitung auf die “primaries” oder die Facharztprüfung genutzt. Kurz zusammen gefasst: die Lehre hat ein ganz anderes Niveau, einfach dadurch, dass sie einen ganz anderen Stellenwert hat.
dasFOAM: Jetzt die Frage der Fragen, die Dir ja auch schon die Kolleg*innen von young DGINA gestellt haben: Als aufstrebende Notfallmediziner*in in D-A-CH: warten oder hoffen?
Marc: Kann ich nicht klar beantworten. Ich bin vor zehn Jahren gegangen und wollte nicht auswandern, weil ich in Deutschland sehr vieles super finde. In der Gesellschaft und mit der deutschen Denkweise habe ich mich immer wohl gefühlt. So bin ich mit dem Plan gegangen zurück zu kommen. Nun, elf Jahre später, bin ich immer noch nicht zurück, weil es sich hier eben noch nicht so entwickelt hat, wie ich es mir gewünscht habe. Die ersten Kinderschritte wurden gemacht. Jedoch ist der Facharzt für Notfallmedizin leider nicht gekommen und das wird die Weiterentwicklung der Notfallmedizin weiter verzögern.
Deswegen sind uns in Australien die anderen Fachrichtungen nicht böse, ganz im Gegenteil: sie sind froh, dass wir denen Raum für ihren richtigen Job schaffen. Nun aber zurück zur Frage, was man als aufstrebende*r Notfallmediziner*in in D-A-CH machen sollte. Deutschland ist mittlerweile schon etwas weiter und ich sehe hier Ansätze. Im Februar war ich in Jena und es hat mir dort wirklich sehr gut gefallen! Letztendlich muss es jede*r für sich entscheiden. Man kann in jedem Land etwas in der Notfallmedizin machen und es hängt immer von einem selbst ab, ob man zufrieden oder unzufrieden mit der dortigen Situation ist. Ich habe mich für Australien entschieden, weil ich dort einfach hängen geblieben bin. Ich möchte momentan nicht zurück kommen, weil sich die Notfallmedizin generell in Deutschland noch nicht zu dem Niveau entwickelt hat, wie ich es mir vorgestellt hätte. Aber trotzdem, wenn man in Deutschland die Augen und Ohren offen hält, tut sich einiges. Bestes Beispiel ist, dass wir hier grade dieses Interview führen! Ihr habt hier in Deutschland Möglichkeiten Notfallmedizin zu machen, zwar nicht überall, aber es gibt diese Leuchttürme. Ich glaube, dass sich in Deutschland noch einiges tun wird in den nächsten Jahren!
dasFOAM: In der Einführung für den Blogbeitrag hatten wir es schon vom Klischee des australischen Lebens. Wie sieht es aber eigentlich in der Realität mit dem Thema work life balance aus?
Marc: Das ist ein Thema, das mich am Anfang sehr stark beschäftigt hat, denn in Deutschland verdient man als Arzt völlig berechtigterweise nicht mehr so viel wie früher. Mir war zwar klar, dass ich als Arzt wahrscheinlich immer genug verdienen werde, aber mir war es eigentlich am wichtigsten, dass ich einen guten Ausgleich zur Arbeit finde. In München war es von den Wochenstunden eigentlich ganz fair, allerdings musste ich immer zittern, wenn ich frei hatte, dass das Telefon klingelt und ich zurück in die Klinik musste. Personell waren wir so besetzt, dass wenn einer krank wurde, der ganze Laden zusammen gefallen ist, dss fand ich sehr frustrierend. Australien ist ein sehr bürokratisches Land, jedoch - oder eventuell genau deswegen - funktioniert hier für mich die Work-Life-Balance viel besser. Der Dienstplan wird lange im Vorfeld erstellt, wenn jemand krank wird, werde ich nur äußerst selten angerufen. Ich habe ganz klare Arbeits- und Ausbildungszeiten sowie klar definierte Fortbildungstage. Wenn ich mal länger als die normalen neun oder zehn Stunden in der Klinik bleibe, dann hat dies einen guten Grund. Besonders durch die bezahlten Fortbildungszeiten, die man während der Facharztausbildung jede Woche hat, denke ich, dass die Work-Life-Balance bei uns sehr gut organisiert ist. Es ist alles sehr flexibel, man wechselt öfters die Position und kann für verschiedene Krankenhäuser arbeiten. Als ich meinem Chef gesagt habe, ich möchte nur noch 50% auf der Stelle arbeiten, dann war das für Ihn kein Problem und er sah es nicht als Nachteil.
Könnt ihr bitte das grausame Gendern am Besten ganz lassen, oder zumindest nicht diese blöde Sternchen-Variante verwenden? Das ist eine Verhunzung der Sprache und macht den Beitrag leider unlesbar
Ich hab’s geschafft, alles zu lesen, trotz des Genderns. 🙂
Vielen Dank fürs Interview!
Hello, besteht die Möglichkeit einen Kontakt mit Marc Schnekenburger herzustellen? Ich befinde mich gerade im 9. Semester des Studiums, liebe die Notfall- und Intensivmedizin und finde Australien als Land sehr spannend. Daher würde ich mich gerne auf dem kurzen Weg mit Marc über die genauen Möglichkeiten austauschen.
Danke! 🙂