Teams, Ressourcen, Management und Sex & Drugs & Rock‘n‘Roll

Im Schlafentzug euphorisiert durch die Nacht rasen, die Taschen voller Drogen, unfassbarer Lärm um einen herum, auf der Suche nach dem nächsten, schnellen Kick. Was gibt es geileres als ein wieder schlagendes Herz? Das ist Notfallmedizin. Das ist Sex & Drugs & Rock’Roll. Das befriedigt extrem. Wir wollen das schnelle Ergebnis. Hat hier noch jemand ausser mir nur die „attention span of a bullet“? Sind wir alle zumindest leichte ADHSler? Kriegen wir nur bei extremen Reizen Glücksgefühle? Haben wir ein Problem mit unserem Serotoninhaushalt? Man weiß es nicht, oder ich weiß es nicht. Klar ist mir aber folgendes:

durch die Nacht
Notfallmedizin behandelt Patientinnen und Patienten mit Erkrankungen in einem Stadium der extremen Ungewissheit und geringer Informationsdichte. „Notfallpatientinnen und Notfallpatienten sind Personen, die sich in einem lebensbedrohlichen Zustand befinden oder bei denen schwere gesundheitliche Schäden zu befürchten sind, wenn sie nicht umgehend geeignete medizinische Hilfe erhalten“. Die Unsicherheit ist groß und der Handelsdruck ebenso. Fehler können fatal sein. In welchen Fachdisziplinen wird erwartet, jeden und jede sofort zu behandeln, egal ob geriatrisch oder pädiatrisch, chirurgisch oder internistisch, neurologisch oder sonstiges, möglicherweise schwer krank und reanimationsbedürftig? Die Anforderungen an die individuellen Notfallretterinnen und -retter sind hoch. Der Anreiz, der Gewinn und die Befriedigung auch. Es muss viel stimmen, um eine exzellente Performance zu liefern (und um das mögliche reward defizit zu befriedigen).

Zu Top- Leistungen in der Notfallmedizin gehören (mindestens) vier Faktoren:

  • Die individuellen Fertigkeiten und die Persönlichkeit der/des Notfallretterin/retters
  • Das Team mit dem wir arbeiten
  • Die Struktur in der wir arbeiten
  • Das System mit dem wir arbeiten

Ok. Einiges kennen wir schon. Die allgemeinen Grundlagen zum Crew Ressource Management (CRM) für die optimierte Teamarbeit sind wahrscheinlich inzwischen jedem bekannt. Die klassischen CRM- Punkte tauchen hier auch immer mal wieder auf, nur werden sie neu strukturiert. Es reicht aber nicht „Closed-loop-communication“ zu machen und seine Kollegen beim Namen zu nennen. High Performance Teams passen ihre Kommunikation, ihre Koordination und ihre Entscheidungsfindung dynamisch an die Situation an und handeln innerhalb eines definierten Systems mit klaren Strukturen. Die Kenntnis unserer Arbeitsumgebung und unseres Materials werden von jedem und jeder einzelnen erwartet. „Control yourself, your team, the environment and the patient“, wie Cliff Reid so schön einfach sagt (Own the resus room). Aber eins davon, denke ich, kann man nicht wirklich kontrollieren: Die Patienten. Das ist unsere black box. Hier liegt die unkontrollierte Unsicherheit unserer Tätigkeit. Auf alles andere können wir im Vorfeld Einfluss nehmen. Um bestens diesen Unsicherheitsfaktor Patientin/Patient beherrschen zu können, müssen wir die anderen Faktoren zu kontrollieren versuchen.
TEAMS, ressourcen Management

1.) wir Selbst

Umgebungsrauschen (Stress) beeinträchtigt  die Performance. Bei Ressourcenmangel und/oder hoher Komplexität kann es zu Ignoranz von dringenden Problemen oder Aufmerksamkeitsverlust kommen. Dies wird beschrieben als mentale Überladung („cognitive overload“). Es können verschiedene Lösungsstrategien zum Stressmanagement angewandt werden. Hierzu gehören:
–    Atemtechniken, wie z.B. Square-breathing (z.B. 4-4-4-4 Sekunden)
–   Motivierende Selbstgespräche (Selbstbestätigung: „Ich kann das, ich schaffe das..“)
–    Mentale Simulation oder Ins-Gedächnis-Rufen der nächsten Schritte und/oder imaginäre Visualisierung.
Dazu könnte man auch die „bewusste Handlung“ („deliberate action“) zählen. Bevor man einen Behandlungsschritt unternimmt, macht man eine kurze Pause und geht die geplante Aktion im Selbstgespräch mit Gesten durch. Dies reduziert „automatische“ Fehler und macht die geplante Aktion bewusst. Es ist unerheblich, ob noch jemand dabei ist.
–    Stress- Inocculation- Training (wäre einen eigenen Blogpost wert. Bitte schaut euch den Link an).
Durch Selbstkontrolle geben wir uns die Möglichkeit, mögliche systematische Fehler zu Fixierungen hinterfragen („Ich hab doch jetzt die Beatmung schon dreimal optimiert, aber der Patient ist noch immer hypoxisch, vielleicht liegt die Oxgygenierungsstörung nicht am mangelnden PEEP, sondern an einem Pneu?“).
Dies führt einen zur aktiven Aufmerksamkeitslenkung (Situational Awareness). Diese hängt mit der kognitiven Informationsverarbeitung zusammen. Zunächst müssen die für die Situation relevanten Informationen identifiziert werden. Irrelevantes bildet ein ablenkendes Hintergrundrauschen. Mit zunehmender Expertise ist eine Unterscheidung in wichtige und unwichtige Information möglich. Zur Expertise gehört dann auch, die Informationen zusammenzubringen, um daraus das richtige Bild zu formen. Als dritter Schritt folgt die Antizipation und Vorbereitung der in der Zukunft liegenden ggf. notwendigen Maßnahmen.

2.) Das Team

Bei Teams sollte ein gemeinsames mentales Modell zur Patientenversorgung vorhanden sein. Insbesondere bei ad hoc-Teams kennen die Mitglieder die gegenseitigen Fähigkeiten und Bedürfnisse nicht. Wenn man sich mit Teamtraining beschäftigt, fällt auf, dass z.B. Schockraumtrainings meist Taskwork und nicht Teamwork beinhalten. Um eine Teamstruktur zu managen, werden außer kognitiven und Skill- Trainings auch folgende Punkte empfohlen:
–    Etablierung einer gemeinsamen Sprache durch bewusste/direkte Ansprache, kurze Kommandos und closed-loop-Kommunikation (Rückbestätigung von Aussagen/ Anweisungen durch den Empfänger um Missverständnisse zu vermeiden).
–     Das laute Aussprechen der Massnahmen, die durchgeführt werden, dient nicht nur der eigenen Aufmerksamkeitslenkung, sondern informiert das Team über die internen Prozesse, die zur Entscheidungsfindung beitragen, bevor ein Prozess initialisiert wird („THINK OUT LOUD“). Diese Form der “Selbstgespräche“ in einem Einsatz ist hilfreich für den Team-Leader, um ohne Nachfragen zu erkennen, ob Massnahmen durchgeführt werden,  die auch dem eigenen Plan entsprechen und ermächtigt Teammitglieder autonom zu handeln. Zum Anderen werden Teammitglieder durch den Teamleader über die Prozesse informiert, die zu Massnahmen geführt haben und haben ein grösseres Verständnis. Dies hilft einem Team, ein gemeinsames mentales Model von den Pathopysiologien und Therapien zu entwickeln und optimiert die Zusammenarbeit.
–    „Dosiertes Durchsetzen“ (CUS), um Hierarchiegefälle zu überwinden. Beim dosierten Durchsetzen können in Organisationen Codewörter vereinbart werden, die es jedem Teammitglied erlauben, seine Bedenken zu äußern. Diese Bedenken können unterschiedlich stark sein, so dass bei den Codewörtern eine Steigerung besteht. Im Englischen sind dies: concern (Bedenken) – unwell (Unwohlsein) – patient safety (Patientengefährdung) („CUS“). Wenn einem also nicht gefällt, was der Notarzt oder die Notärztin so machen kann man auch mal sagen: „Ich fühle mich unwohl, wenn Sie den Patienten nicht begleiten“ oder „Ich halte es für Patientengefährdung, die Hypotonie nicht zu behandeln und werde das auch in meinem Protokoll vermerken“…
–   Situativ angepasste Koordination mit repetitiven „Situation Reports“ („10-for-10“).
–  Bei Bedarf können modifizierte Teamstrukturen mit „Subteams“ und einem Team- Leader eingesetzt werden.
–    Zur Teamkommunikation gehört auch ein sogenanntes „Prebriefing“, in dem die bekannten Informationen zur bevorstehenden Lage im Team kommuniziert werden und Rollen verteilt werden.
Noch wirkmächtiger auf lange Sicht und ein beeindruckendes Führungsinstrument ist auch der Ansatz „Don‘t brief, certify“ von L. David Marquet („Turn the ship around“). Hierbei wird empfohlen, nicht nur Informationen an passive Zuhörer zu vermitteln, sondern Kompetenzen direkt abzufragen, so dass sich jedes Teammitglied mit seinen Aufgaben aktiv auseinandersetzen muss und gleichzeitig die Kompetenten nachweist, die ihr oder ihm zugesprochen werden. Eine derartigen Führungskultur einzuführen, bedarf Zeit und muss ggf. Widerstände überwinden. Das führt aber zu Verantwortungsübernahme und einem selbstbewusten Rollenverständnis, wie z.B. durch die Generaldelegation von heilkundlichen Massnahmen an Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter in Berlin. Dies unterstützt effektiv den leader-leader Ansatz zur Teamarbeit.

3.) Die Struktur

Latente Sicherheitsrisiken im Arbeitsumfeld sollten gekannt, erkannt und vermieden werden. Warum ist das wichtig? Ich geben ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit der Flugsicherheit um die Boeing 737 MAX: Einem alten Flugzeugtyp (Boeing 737) wurden neue, zu große Triebwerke (LEAP) an die Flügel gebaut, die zwar weniger Sprit verbrauchten, aber dafür die Flugeigenschaften ungünstig veränderten (extremer Auftrieb). Um unbeherrschbare Flugsituationen zu verhindern, wurde das automatische Flugassistenzsystem (MCAS) entwickelt und ohne die Piloten in Kenntnis zu setzen, eingebaut. Ein fehlerhafter Sensor leitete fehlerhafte Informationen zu dem Flugassistenzsystem, das dadurch die Flugzeuge zum Sinkflug brachte, den die Crews nicht verhindern konnten. Folge waren zwei Flugzeugabstürze, 346 Tote und unabsehbare Folgen für Boeing und die US-Wirtschaft in 2019. Dass Medizinprodukte eine Fülle von Designfehlern aufweisen, ist bekannt und hindert den Einkauf nicht daran, diese zu beschaffen. Es gibt z.B. Beatmungsgeräte, bei denen der Sauerstoff-Flush Druckknopf direkt neben dem Ein/Aus- Schalter liegt.
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Wenn man im Vorfeld keinen Einfluss auf das vorhandene Material und das Design des Arbeitsumfelds nehmen kann, sollte man wenigstens die Funktionen kennen (einfaches Beispiel: Wie schalte ich aus dem AED-Modus zu manuell um, ohne den Defibrillator auszumachen). Des Weiteren ist eine Redundanz in der Strukturvorhaltung manchmal lebensrettend (wie es z.B. ein zweiter Sensor in der Boeing 737 gewesen wäre). Vorteilhafte Redundanzen sind z.B. Sauerstoffflaschen und Beatmungsbeutel unter jeder Liege in der Notaufnahme. Oder es sollten verschiedene chirurgische Notfall- Atemwegszugänge im Schockraum vorgehalten werden, damit unterschiedlich trainiertes Personal darauf zurückgreifen kann.
Vorkehrungen können zu verschiedenen Zeitpunkten getroffen werden:
–    Im Vorfeld des Einsatzes: Beim Design, bei der Planung von Geräten, Test von Gerätschaften vor der Anschaffung, Adaption und Kenntnis von Eigenheiten von Geräten und baulichen Gegebenheiten. Einweisungen in Gerätschaften nach dem Medizinproduktegesetz (MPG).
–    Unmittelbare Vorbereitung vor einem Einsatz oder Ereignis. Man sollte sich vertraut machen mit dem NEF/RTW, dem Schockraum, der Behandlungsstelle, dem verfügbaren Equipment, dem Team. Dies sollte Teil der Einsatzbesprechung oder des sogenannten „zero-point-survey“ sein.
–    Während eines Einsatzes: Eine erfahrene Notfallrettungskraft oder Pflegekraft managed die Logistik („logistic safety officer“). Bei Lagen mit einer Mehrzahl an Verletzten ist das z.B. der/die Organisatorische/r Leiter/in Rettungdienst (OrgL) an einer größeren Einsatzstelle. Im Schockraum kann diese Funktion z.B. durch die ZNA- Pflege erfolgen, die „ihren“ Schockraum am besten kennt. Die Kenntnis von Umgebung und Geräte-Eigenschaften ist also essentiell, um Strategie und Logistik zusammenzuführen.

4.) Das  System

schafft Resilienz um die Widerstandsfähigkeit unter Routine und bei unerwarteten Situationen zu erhöhen. Hierzu gehören unter Anderem:
–    Monitoring: Checklisten für Anwendungen von komplexen Prozeduren und strukturierte Übergabeprotokolle um Transmissionsverluste zu vermindern.
–    Entscheidungshilfen wie Scores, SOPs (Standard Operating Procedure) und Klinische Pfade.
–    Lernen aus Erfahrungen durch z.B. In-situ-Simulationstraining und Debriefing von „real-life“ Ereignissen oder Schockraumversorgungen
–    Qualitätsmanagement (QM)-Systeme mit CIRS, M&M Konferenzen und A&A Konferenzen
Risikomanagement schaut im klassischen Sinne auf Fehler, die passiert sind, analysiert die Ursachen und versucht diese zu eliminieren. Dieser Ansatz ist seit den 70er/80er Jahren bewährt und bildet die Grundlage in sensiblem Bereichen der Sicherheitstechnik von Reaktorsicherkeit, Flugsicherheit und hat auch Einzug genommen im Qualitätsmanagement in der Medizin. Wir schauen auf Beinahe- Zwischenfälle (CIRS = critical incidence reporting system), arbeiten Zwischenfälle bei M&M (Morbidity & Mortality)- Konferenzen auf und verfolgen Schadensereignisse bei Patienten durch Personal berufspolitisch, zivilrechtlich und strafrechtlich. Dieser Ansatz wird als „safety I“ bezeichnet. In komplexen Systemen, in denen wir arbeiten, reicht dieser Ansatz aber nicht zur Fehlervermeidung aus. Derzeit werden neue Wege gesucht, um komplexe Systeme sicherer zu machen. Der sogenannte „Safety II“- Ansatz versucht die System- Resilienz zu erhöhen, ohne auf die Fehler zu schauen. Safety II betrachtet und analysiert Ereignisse, die gut abgelaufen sind und versucht dadurch Resilienz– Elemente zu identifizieren und proaktiv anzuwenden, um Fehler in der Zukunft zu vermeiden. Hierzu gehören z.B. A&A (awesome & amazing)- Konferenzen, in denen Fallberichte mit positivem Ausgang berichtet werden. System- Resilienz wird gebildet und entsteht nicht von selbst. Durch die Kombination von Safety l und Safety ll könnte die System- Resilienz erhöht werden.
 
Was hat nun diese kurze und unvollständige Abhandlung zur Performance in der Notfallmedizin mit Sex, Drugs & Rock‘n‘Roll zu tun? Über die drugs brauchen wir nicht weiter reden, dass die Patienten die kriegen, ist klar. Rock’n’Roll ist das Große und Ganze. Und wer jetzt bis zum Schluss durchgehalten hat und immer noch auf den Part mit dem Sex wartet, kann kein Problem mit Zwang zu schneller Befriedigung haben. Vielleicht auch nicht einmal ein leichtes ADHS. Aber zum Trost kann ich versichern: Wenn man das System bespielen kann, in dem man arbeitet, die Strukturen beherrscht, die einen umgeben und das eigene Team kennt, dann sollten einem auch nicht die individuellen Fähigkeiten abgehen, um auch mit dem Sex kein Problem zu haben.
Notfallmedizin ist komplex und funktioniert nicht alleine. Es bleibt am Schluss trotzdem die Frage, was führt einen dazu, das eigene Verhalten so zu verändern oder anzupassen, um den zeitgemäßen Anforderungen zu entsprechen?
Die Motivation kommt wahrscheinlich bei jedem einzelnen aus einem anderen Grund. Bei einigen ist es der schnelle Kick und die Befriedigung durch ein wieder schlagendes Herz. Andere erfreuen sich an einem funktionierenden System oder wollen Strukturqualität verbessern.
Was sicher ist: Ohne ein Team funktioniert alles nicht.
@xaqu1n
 
Wie immer gilt: Der Einzelfall entscheidet. Der Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit und die genannten Empfehlungen sind ohne Gewähr. Die Verantwortung liegt bei den Behandelnden. Der Text stellt die Position des Autors dar und nicht unbedingt die etablierte Meinung und/oder Meinung von dasFOAM.
 

Literatur

 

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