Aphasie….. Was?

Es ist Freitag abend und auch in unserem virutellen Krankenhaus ist hier besonders viel zu tun. Wie in der realen Welt sind die Durchgänge der Pflegeheime vor dem Wochenende besonders kritisch und das wird mit den ersten Alkoholleichen der noch jungen Nacht kombiniert. Die Bude ist also voll und bis auf den letzten Stetcher belegt.
Aber bei dieser netten, älteren Dame deutlich am Ende ihres 9. Lebensjahrzehntes scheint es etwas anders zu sein. Sie wird im Lysefenster vom Rettungsdienst in unsere Notaufnahme gebracht. Noch zwei Stunden vor der Alarmierung war die Patientin beim Abendessen gesessen und habe auf einfach Fragen mit „Ja“ und „Nein“ geantwortet. Eine Demenz ist vorbeschrieben, aber soweit war sie noch einigermaßen aktiv – was auch immer das heißt.
Sie habe sich beim Abendessen verschluckt und dann einen kräftigen Hustenanfall gehabt, was ja prinzipiell nicht schlecht ist. So sollte es ja auch sein: Verschlucken führt zu kräftigem Husten, schlimmer ist es, wenn es anders rum ist. Aber seitdem habe sie nicht mehr geredet, wäre kaum ansprechbar und habe eine generelle Schwäche der Extremitäten gezeigt. Außerdem habe sie gebrodelt wie nach einer schweren Aspiration.
Die Dame liegt auf dem Stretcher und redet nicht mit dem Team, egal wer sie fragt: Schwester, Dienstarzt, Neurologe (wegen des Lysefensters, ihr erinnert euch), niemand bekommt was aus ihr raus. Begleitend ist die Atmung erschwert, die Zunge fällt nach hinten und man hört schon von weitem das Brodeln im Rachen. Kennt ihr diese Patienten, die so exsikkiert sind, dass sie den Mund kaum zu bekommen und die Zunge so zusammen geschnurrt ist, dass sie nicht mehr aus dem Mund gestreckt werden kann?

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Cole Young via https://www.flickr.com/photos/kaanah/


Ich nenne es das Schildkrötenzeichen und es ist (nicht wissenschaftlich validiert) aus meiner klinischen Erfahrung ein sehr zuverlässiges Zeichen für die maximal mögliche Exsikkose. Und auch wenn das lustig klingen mag, das ist es – vor allem für unsere Patienten – gar nicht, wenn auch relativ gut behandelbar.

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Das Bild stammt von meinem Twitter-Profil, und tatsächlich: genau so sah die Patientin aus. Und auch wenn man sich meist denkt, die Lysetherapie, die der Patientin hilft, die kenne ich: nämlich zwei Liter Ringer, hier war die Situation etwas anders gelegen. Irgendwie hat es nicht gepasst, und der Neurologe ist auch nicht richtig weiter gekommen. Erst als ich die Patientin von der Seite angeschaut habe und versucht habe den Kopfbereich zu untersuchen ist mir aufgefallen, dass etwas nicht stimmt.

Und auch wenn das natürlich jetzt sehr offensichtlich ist und der ein oder andere Leser meint, das kann man ja gar nicht verpassen: das ist gar nicht selten, dass eine Kiefer-Luxation erst auf Station oder deutlich später im Verlauf auffällt. Und jetzt wird klar, was die gesamte Situation ausgelöst hat: ein Klassiker der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie – die anteriore Mandibula-Luxation.
 
 
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By Cecilia Grierson , via Wikimedia Commons
Die Reposition ging dann bei dieser Patientin sehr schnell und einfach, und auf einmal konnte die Patientin wieder sprechen und das Brodeln war weg. Gut, die zwei Liter Ringer hatten trotzdem auch ihr Gutes, aber Hauptproblem war offensichtlich der luxierte Kiefer. Die Reposition war schon durch leichtes Anheben des Kinnes und fast ohne Drücken des Kiefers nach dorsal erreicht.
Generell ist die Reduktion dieser Luxation eine Standardintervention, die im Alltag sicher und einfach – bei bereits klinischer Diagnosestellung – durch zu führen ist. Prinzipiell ist eine Kurznarkose wie bei anderen Repositionen möglich, dann gelten die üblichen Voraussetzungen und Vorsichtsmaßnahmen. Alternativ kann eine 2%-ige Lidocain-Lösung in das Gelenk injiziert werden. Der Kopf des Patienten wird dann in aufgerichteter Position gegen die Liege fixiert und mit Druck gegen den das Kinn nach kranial sowie parallelem Druck gegen die Molaren nach unten der Kiefer reponiert. Es gibt verschiedene Techniken wie die Hand zu führen ist: am häufigsten wird mit den Daumen – geschützt durch Kompressen – der Druck auf die Molaren aus geübt, während die Finger das Kinn führen. (s.u.)
Hier habe ich noch zwei weitere Techniken verlinkt, die ebenfalls einfach und rasch anzuwenden sind. Im Prinzip zeigt das erste Video die oben beschriebene Technik mit einem interessanten Trick, die Kollegin im zweiten Video zeigt eine ganz andere Herangehensweise. Probiert einfach aus, wie es für euch besser funktioniert. Und denkt dran: Immer auf eure Daumen aufpassen!
 

 

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Wie immer gilt: der Einzelfall entscheidet, die genannten Empfehlungen sind ohne Gewähr, die Verantwortung liegt bei der behandelnden Ärztin bzw. dem behandelnden Arzt. Wie alle unsere Artikel behandelt auch dieser eine notfall- bzw. akutmedizinische Situation, nicht die Versorgung auf Station oder in der Hausarztpraxis.

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