Dot und Antidot - Doppelter Gewinn?

Ein wichtiger Punkt in unserer alltäglichen Arbeit klinisch wie präklinisch ist das Management von blutenden Patienten mit Antikoagulantien. Üblicherweise verstehen wir da natürlich im engeren Sinne neben den Kumarin-Derivaten (Phenprocoumon wie Marcumar oder Falithrom) auch die neuen Präparate: ehemals NOAKs (N = neu), jetzt DOAKs (D = direkt). Grundsätzlich ist das Blutungsmanagement oft beschrieben und ausführlich diskutiert. Präklinisch haben wir da wenig Optionen - außer dem üblichen Schockmanagement beim instabilen Patienten. Oder hat wer PPSB oder gar aktivierten Faktor VII auf dem NEF verfügbar?
In unserer virtuellen Klinik dasHOSPITAL gibt es natürlich wie vermutlich in allen anderen Häusern auch die fließende Unterscheidung zwischen stabil und instabil: Ist die Blutung kritisch oder nicht? Und wie viel Zeit habe ich? Und ich habe erheblich mehr Ressourcen verfügbar, wie z.B. relevante Mengen PPSB (Faktor IIProthrombin, Faktor VIIProkonvertin, Faktor XStuart-Prower-Faktor, Faktor IX – antihämophiler Faktor B) oder rFVIIa (rekombinanter Faktor VIIa, “NovoSeven”). Wäre es da nicht fantastisch, wenn man die Wirkung der Antikoagulantien komplett aufheben könnte?
Für den Wirkstoff Dabigatran gibt es seit einiger Zeit ein Antidot auf dem Markt: Idarucizumab. Es könnte also wirklich großartig sein, die Wirkung ist in Sekunden aufgehoben und sofort wird die Gerinnung des Patienten in seinen Ausgangszustand zurück gesetzt. Aber hilft das tatsächlich auch im Management der Patienten, kommt es in der Wirkung bei den Patienten an? Hier muss man sich den Unterschied zwischen einem Surrogatparameter zu einem realen klinisch messbaren Zustand ins Gedächtnis rufen: ein Surrogatparameter misst einen bestimmten Wert, bei dem wir vermuten, dass er unser Ziel optimal wieder gibt. In diesem Fall nehmen wir die Blutgerinnung als Surrogatparameter. Aber interessiert die mich? Als Operateur und Anästhesist vielleicht, aber als Notfallmediziner ist mir die primär egal, ich will eine Blutstillung erreichen - egal wie. Ich möchte mich daher nicht mit einem Surrogatparameter rum ärgern, sondern ich will die Blutung zum stehen bekommen. Damit wir uns nicht falsch verstehen: natürlich ist die Blutgerinnung extrem wichtig, komplex und ein weites Arbeitsfeld (fragt mal Kostja Steiner), aber nicht ganz das Thema hier.
Warum reite ich hier also auf dem Surrogatparametern Gerinnungszeit (dem für Dabigatran relevanten Gerinnungsparameter, etwas vereinfacht gesagt) im Vergleich zur klinischen Blutstillung rum? Die initialen Daten (nicht die kürzlich veröffentlichten Endergebnisse) der Studie zur Zulassung von Idarucizumab waren nicht sehr viel versprechend: Dauer bis zur Blutstillung 11,4h. Und das bei einem Medikament, was eine Halbwertszeit von 12h hatte. Aber ehrlicherweise war eben der primäre Endpunkt der Studie NICHT die Blutungsstillung, sondern die Normalisierung der Gerinnung, Blutungsstillung war nur sekundärer Endpunkt. Da sind wir wieder beim Surrogatparameter, mit anderen Worten: Wenn ich in einer Baustelle auf der Autobahn bei einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 80 km/h mit 200 Sachen geblitzt werde, ist der Führerschein weg, egal ob ich hinterher mich strikt dran halte. Auch wenn nicht alles hinkt, was ein Vergleich ist, das Kind ist in den Brunnen gefallen, der Patient blutet, wie bekomme ich den stabilisiert? Ist der Anteil der Dabigatran-Wirkungsaufhebung bei einem instabilem, ausgebluteten Patienten mit obere gastrotintestinaler Blutung an der Stabilisierung so ausgeprägt, dass ich damit tatsächlich noch was reiße?
Um ehrlich zu sein, ich bin da nach wie vor skeptisch. Die Endergebnisse der “RE-VERSE AD”-Studie sind zwar erheblich besser, aber vermutlich auch sehr selektiert ausgewertet. Und eben mit primären Endpunkt der Thrombin-Zeit (vereinfacht gesagt, s.o.). Die klinische Blutstillung als sekundären Endpunkt hat man - ohne Vergleichsgruppe - nach subjektiven Parametern und Ausschluss von zahlreichen Patienten - zum Beispiel alle intrakraniellen Blutungen - auf 2,5h reduzieren können, im Vergleich zu den ersten 90 Patienten mit ihren 11,4h. Ein Schelm wer böses dabei denkt. Oder andersrum: da bleiben so viele Fragen offen, das kann man umöglich abschließend beurteilen. Oder noch andersrum: Idarucizumab behebt ein Problem, das ich vermutlich gerade nicht habe.
Wie werden hier in unserem dasHOSPITAL aktuell also Blutungen unter einem DOAK gehandhabt? Grundsätzlich halte ich mich da an die aktuellen Empfehlungen. Also ein optimales Management der Blutung mit kausaler Therapie (z.B. ÖGD, OP, …) sowie hämodynamisches Monitoring. Es lohnt sich immer eine Bestimmung der Thrombinzeit oder des anti-Xa-Faktors (um heraus zu finden, ob überhaupt ein klinisch relevanter Effekt der Medikamente vor liegt) durch zu führen, außerdem brauchen diese Patienten natürlich ein intensivmedizinisches Management inklusive der Umgebungsfaktoren (Temperatur, pH, Calzium, Dialyse/Diurese…) sowie gegebenenfalls (!) Gerinnungspräparate (PPSB, rFVIIa, Tranexamsäure: komplexes Thema, teils off-label oder praktisch ohne Evidenz, das aber hier zu weit führen würde) und Blutkonserven. Man sollte sich auch unbedingt Leber- und Nierenfunktion an schauen.
Bei Dabigatran gibt es mit dem Antikörper ja eine weitere Stellschraube - bitte nicht verwechseln mit DEM Schalter, der wieder alles gut macht - in der Kaskade. Diese setze ich - aktuell* - sinnvollerweise aber nur dosiert ein, und zwar dann, wenn ich vermute, dass ich jeden Strohhalm zur Stabilisierung des Patienten brauche. Und unter der Berücksichtigung, dass im Anschluss vermutlich deutlich mehr thrombembolische Ereignisse auftreten.

  • hochgradig instabil/Reanimation bei Blutung (außer ICB): Sofortige Gabe von Idarucizumab 5 g i.v. im Rahmen des Schockmanagementes
  • hypoton/permissiv hypoton/relevant reduzierter HB in der POC-Diagnostik: Gabe von Idarucizumab 5 g i.v. möglich, sofern abwartendes zuwarten (oder forcierte Diurese bzw. Aktudialyse) nicht sinnvoll ist.
  • Intrakranielle Blutung (ICB) oder Patient im Lysefenster/vor Angio zur Intervention: Idarucizumab 5 g i.v. nach interdsiziplinärer Absprache mit den Neurochirurgen und Neurologen (angesichts des hochkomplexen Themas nur als individueller Heilversuch)

Die Unterscheidung zwischen hochgradig instabil und “nur” hypoton ist sicher fließend und sollte auf der klinischen Einschätzung und Entwicklung des Patienten beruhen. Wie gesagt, hier handelt es sich um einen Grenzbereich mit fließenden Übergängen und komplexen Entscheidungen, wer lieber einfache Entscheidungsbäume ohne Nachdenken möchte, findet das hier vermutlich eher nicht.
Letztendlich entscheide ich persönlich individuell bei jedem Patienten - notfalls im Minutentakt neu - ob ich noch Zeit habe, oder ob wir eine bestimmte Intervention sofort brauchen. Und dann würde ich die EK-Gabe der Gabe von Idarucizumab zur kurzfristigen Stabilisierung eher vor ziehen.
*Bis zum Eintreffen besserer klinischer Daten (Stand 01/18)
 
Quellen:

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http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa1707278
http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa1502000#t=article

Idarucizumab, the Sequel

Noreversaban?

Idarucizumab: Plenty of optimism, not enough science

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2 Kommentare

  1. Interessanter Artikel, auch wenn ich in der Grundaussage anderer Meinung bin (natürlich geht es primär um die Blutstillung, aber die Normalisierung der Blutgerinnung wird wohl dabei helfen).

    Aber konkretes Feedback zu einem Punkt, welcher sehr unklar (und fachlich falsch) ist:
    „Intrakranielle Blutung (ICB) oder Patient im Lysefenster/vor Angio zur Intervention: Idarucizumab 5 g i.v. nach interdsiziplinärer Absprache mit den Neurochirurgen und Neurologen (angesichts des hochkomplexen Themas nur als individueller Heilversuch)“
    Drei völlig unterschiedliche Situationen (ICH/geplante Lyse/geplante Neurointervention), aber für den Autor scheinbar dasselbe - hier der Versuch einer Richtigstellung:

    Intrazerebrale Blutung: Antagonisierung mitteln Idarucizumab klinisch jedenfalls indiziert (siehe auch die entsprechenden Empfehlungen der Fachgesellschaften).
    geplante Thrombektomie bei proximalem Gefäßverschluss: Keine Antagonisierung notwendig (warum auch?).
    geplante systemische Thrombolyse: Hier stimmt die Aussage des Autors - Antagonisierung und Lyse als individueller Heilversuch, gibt zwar eine größere Anzahl an positiven Fallberichten, aber auch Argumente dagegen (ggf. erhöhtes Blutungs- aber auch Embolierisiko); würde ich auch persönlich von der individuellen Situation abhängig machen (Schlaganfallschwere, Zeitfenster, individuelle Faktoren bzgl. des Blutungsrisikos, etc.)

    1. Vielen Dank für diesen konstruktiven und großartigen Kommentar. Grundsätzlich sehe ich es kaum anders und denke auch, dass wir in Zukunft mit der Erfahrung und neuen Studien erkennen werden, wo die Vorteile der Antagonisierung sind, ähnlich wie wir es bei den Cumarinen ja auch gelernt haben.
      Ich stimme zu, dass die angesprochenen Punkte natürlich unterschiedlicher Genese sind, aber für diesen Artikel bzw. die Zielsetzung deswegen zusammen gefasst wurden, da es hier um hochkomplexe, nicht abschließend wissenschaftlich bewertete Situationen geht (daher auch der Hinweis am Ende des Artikels auf den Stand 01/18), denen allen Dreien gemein ist, dass man individuell entscheiden muss. Als Ergänzung: REVERSE-AD hat ICBs in der klinischen Bewertung ausgeschlossen und die Thrombektomie kann mit einer erhöhten Blutungsneigung einher gehen.

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