COVID-19: ICU-Ethik und was das mit Burn-Out zu tun hat

Auch ohne COVID-19 sind wir mit Personalmangel und Überlastung im Gesundheitswesen konfrontiert, diese prekäre Situation wird durch die eskalierende Pandemie noch weiter verstärkt. Opfer der Pandemie werden nicht nur an COVID-19 erkrankte Patienten sein, auch beim Gesundheitspersonal wird die Pandemie ihre Spuren hinterlassen.

Die italienische Fachgesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin (SIAARTI) hat ein Konsenspapier mit ethischen Überlegungen im Setting begrenzter Ressourcen herausgegeben. Die Implementierung solcher Empfehlungen ist nicht nur für Patienten, sondern auch für Angehörige von essentieller Bedeutung. Intensivmedizin ist auch ohne Pandemie einer Bereich mit immens hoher Belastung. COVID-19 stellt nicht nur das Stammpersonal vor nie dagewesene Herausforderung, auch „frisches“ Personal wird mit Situationen konfrontiert werden, auf die man sich nur begrenzt vorbereiten konnte. 

15 Empfehlungen aus Italien

Diese Empfehlungen sind in englischer Sprache erschienen und wurden von mir übersetzt, ich kann daher nicht garantieren, dass der Inhalt zu 100% mit dem Original übereinstimmt. Ich habe mich um eine gute Lesbarkeit bemüht, möchte aber dennoch hinweisen, dass sich die Lektüre des Originaltextes lohnt.

  1. Die Kriterien für Aufnahme auf Intensivstationen sind flexibel und können lokal an verschiedene Umstände, wie zum Beispiel die Verfügbarkeit von Ressourcen, die Möglichkeit der Verlegung oder die aktuelle oder erwartete Anzahl der ICU-Aufnahmen angepasst werden. Diese Kriterien sind auf alle Aufnahmen, nicht nur auf jene von COVID-19 Patienten anzuwenden.
  2. Die Verteilung von ICU-Ressourcen ist eine komplexe und schwierige Angelegenheit. Die kurzfristige Erhöhung der ICU-Kapazität, um eine schnell wachsende Zahl von Intensivpatienten aufzunehmen , kann einen adäquaten Standard der Patientenversorgung für jeden aufgenommenen Patienten nicht garantieren. Vielmehr besteht die Gefahr, dass wertvolle menschliche und technische Ressourcen von den bereits auf der ICU aufgenommenen Patienten entzogen werden und damit einhergehend, die Gesamtmortalität von anderen – nicht direkt von der Epidemie betroffenen Patienten – steigt, die auf das Vorhandensein von Ressourcen wie Operations- oder Intensivkapazität angewiesen sind.
  3. Eventuell muss ein Alterslimit für die Intensivaufnahme von Patienten gesetzt werden. Das zugrundeliegende Prinzip einer solchen Entscheidung wäre, die begrenzten Ressourcen für jene Patienten zu verwenden, die eine größere Überlebenswahrscheinlichkeit und höhere Lebenserwartung haben. Dies dient dazu, die maximalen Vorteile für die größte Anzahl an Patienten herauszuholen. In einem Szenario von kompletter ICU-Belegung würde die Beibehaltung des “first-come, first served” Prinzips dazu führen, dass die ICU-Versorgung allen folgenden Patienten vorenthalten würde.
  4. Zusammen mit dem Alter, sind Vorerkrankungen und funktioneller Status eines jeden kritisch kranken Patienten unter diesen außergewöhnlichen Umständen genau zu evaluieren. Gerade bei älteren gebrechlichen Patienten ist ein längerer – und damit ressourcenintensiverer – klinischer Verlauf mit schweren Co-Morbiditäten zu erwarten, dies im Gegensatz zu weitgehend gutartigen kürzeren Verläufen bei jungen gesunden Patienten.
  5. Das Vorhandensein von Dokumenten für die Versorgungsplanung (Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht) sollte evaluiert werden, besonders bei Patienten, die von einer schweren chronischen Krankheit betroffen sind. Diese Dokumente sollten zwischen Behandlern, Patienten und deren Angehörigen besprochen werden.
  6. Eine Entscheidung, die Aufnahme auf die ICU zu verweigern sollte immer begründet, dokumentiert und kommuniziert werden. Die Entscheidung, keine invasive Beatmung vorzunehmen bedeutet nicht notwendigerweise, dass weniger invasive Therapieformen (wie NIV oder HFNC) ebenfalls nicht angewendet werden sollten.
  7. Unter außergewöhnlichen Umständen, wenn die Verfügbarkeit von Ressourcen vom Bedarf überrannt wird kann die Entscheidung, den Zugang zu einer oderer mehrere Formen von Organersatz zu verweigern, durch das Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit gerechtfertigt sein.
  8. Unter schwierigen Umständen kann es sinnvoll sein, eine Zweitmeinung zu besonders schwierigen oder besorgniserregenden Fällen einzuholen.
  9. Die Aufnahmekriterien auf eine ICU sollten für jeden Patienten so früh wie möglich besprochen werden. Idealerweise würde dies bedeuten, dass ein Verzeichnis aller Patienten mit möglichen Aufnahmebedarf  auf eine ICU erstellt wird, die im Falle freier ICU-Kapazitäten zur Verfügung steht.
  10. Für den Fall, dass lebenserhaltende Maßnahmen nicht- oder nicht-mehr zur Verfügung stehen, müssen allen hypoxischen Patienten palliativmedizinische Maßnahmen entsprechend nationaler und internationaler Empfehlungen zur Verfügung gestellt werden. Wenn eine längere Zeit bis zum Todeseintritt erwartet wird, sollte der Patient in ein Bett außerhalb einer ICU transferiert werden, im Optimalfall sollten palliativmedizinische Maßnahmen außerhalb eines ICU-Settings zur Verfügung gestellt werden.
  11. Jede Aufnahme auf eine Intensivstation sollte als “ICU-Versuch” („ICU-trial“) kommuniziert und bedacht werden. Die Angemessenheit der lebenserhaltenden Maßnahmen soll täglich re-evaluiert werden, dabei soll auf Vorerkrankungen, den klinischen Verlauf, den Patientenwillen, erwartete Behandlungsziele und die Angemessenheit einer Versorgung auf einer ICU bedacht genommen werden. Verbessert sich der Status eines Patienten nach andauernden Intensivtherapie nicht oder treten schwere Komplikationen auf, sollte die Entscheidung weitere intensivmedizinische Behandlungen zu unterlassen oder einzustellen in einem Szenario limitierter Ressourcen nicht aufgeschoben werden.
  12. Die Entscheidung lebenserhaltende Maßnahmen zu unterlassen oder einzustellen muss immer im Behandlungsteam besprochen werden, dies gilt ebenso im Verhältnis zum Patienten und seinen Angehörigen. Der tägliche Verlauf und ein kontinuierliches Re-Assessement der Patienten, der Patientenwille und die Verfügbarkeit von Ressourcen können diesen Entscheidungsprozess stärken.
  13. ECMO ist eine der ressourcen-intensivsten Behandlungsoptionen in einer Intensivstation. Also solche sollte ECMO einem extrem selektierten Patientengut vorbehalten bleiben, bei dem eine kurzfristige Unabhängigkeit (Weaning) von der ECMO zu erwarten ist. Weiters sollte diese Maßnahmen tertiären Zentren mit einem hohen Patientenvolumen vorbehalten bleiben, wo diese Maßnahmen weniger Ressourcen binden als in anderen, weniger erfahrenen Zentren.
  14. Die Vernetzung der Behandler ist essentiell um klinische Erfahrung und Exzellenz zu teilen. Entsprechend sollten Zeit und Ressourcen für Nachbesprechungen und Monitoring für Burn-Out Symptome oder Erschöpfung reserviert werden.
  15. Während einer Epidemie sollten die Auswirkungen von eingeschränkten Besuchsmöglichkeiten auf Familien und Angehörige bedacht werden, insbesondere wenn der Tod eines Angehörigen während der Zeit eines kompletten Besuchsverbotes eintritt. 

Was bedeutet das für unsere Praxis und wie nähern wir uns dem Problem?

Ein wichtiger Punkt an ethischen Entscheidungen ist, dass sie sehr individuell an die konkreten Voraussetzungen angepasst werden sollten. Deswegen muss der Versuch einer „Checkliste“ fast misslingen, ich will mich aber trotzdem bemühen einige kurze Punkte aufzuzählen, die bei der Planung im eigenen Krankenhaus hilfreich sein können, denn eines ist klar:

Ein Aufschieben solcher Gedanken oder die bewusste Entscheidung, „Fall für Fall“ oder ähnlich zu entscheiden wird nicht gut enden. Im Interesse aller Beteiligten ist es jetzt, wo noch keine Überlastung eingetreten ist sinnvoll, solche Überlegungen anzustellen und zumindest grobe Rahmenbedingungen festzulegen für das eigene Haus/die eigene ICU festzulegen.

Die Idee einer Herangehensweise

  1. Die Überlegung, wie viele Intensivpatienten man grundsätzlich betreuen könnte, wo dies geschehen würde und ob man überhaupt genügend Personal und Ressourcen hätte (Gefahr der zusätzlichen Ressourcenknappheit und damit einer erhöhten Gesamtmortalität)
  2. Schätzung des ungefähren Bedarfs an Intensivbetten, abhängig von Lage, Versorgungsstufe und Versorgungsauftrag des Krankenhauses.
  3. Schaffung transparenter Kriterien für Aufnahme und Abbruch einer Intensivtherapie:
    • Hier muss man Anhand bestimmter Kriterien (zum Beispiel Alter, Überlebenswahrscheinlichkeit, Vorerkrankungen, Gebrechlichkeit) entscheiden, welche Patienten überhaupt auf die ICU aufgenommen werden. Diese Kriterien müssen für alle betroffenen Mitarbeiter transparent kommuniziert werden, dadurch kann man bereits vorab die enorme psychische Belastung in solchen Extremsituationen reduzieren.
    • Ebenso braucht es Kriterien für den Abbruch der Intensivtherapie, die italienischen Empfehlungen sprechen hier eindeutig von „ICU-trial“. Diese Kriterien hängen selbstverständlich von der konkreten Auslastung ab, dennoch sollte es einen definierten Umgang für Patienten in einem chronisch-kritischen Zustand ohne kurz- bis mittelfristige Aussicht auf Besserung geben. Auch hier gilt, dass mit solchen Vorab-Entscheidungen die psychische Belastung der Behandler stark reduziert werden kann.
  4. Klar kommunizieren, dass der Abbruch einer Intensivtherapie nicht bedeutet, dass ein Patient aufgegeben wird. Es ist bekannt, dass das Leben endlich ist – alle Berufsgruppe sind am Wohlergehen ihrer Patienten interessiert. Daher sollte ein Konzept zur palliativmedizinischen Versorgung  jener Patienten etabliert werden, die entweder nicht auf die ICU aufgenommen werden oder deren Intensivtherapie abgebrochen werden muss.
  5. Alle diese Entscheidungen sollten klar innerhalb des Teams und gegenüber Patienten und Angehörigen kommuniziert werden. Angehörige sind im Regelfall medizinische Laien, sie haben oft unrealistische Vorstellungen oder Erwartungen. Gerade im Kontext einer Pandemie und oft eingeschränkter Besuchsmöglichkeiten ist es umso wichtiger, nichts zu beschönigen und klarzustellen, dass die Aufnahme auf der ICU nicht automatisch „Heilung“ und die Abbruch der Therapie nicht das „Aufgeben“ des Patienten bedeutet.

Fazit

COVID-19 ist mit Sicherheit eine der größten Herausforderungen für unser modernes Gesundheitssystem. Neben den fachlich-medizinischen, stellen sich uns auch viele ethische und psychologische Herausforderungen. In Extremsituationen zeigt sich außerdem der hohe Wert einer funktionierenden Kommunikation im Team. Zuletzt ist auch die hohe psychische Belastung auf Seiten des Personals hinzuweisen,  zur Reduktion dieser Belastungen ist dringend anzuraten, einen Teil der knappen Ressourcen für Gesprächsrunden und Burn-Out Prophylaxe zu reservieren. Im Gesundheitswesen herrscht schon jetzt Personalmangel und Überlastung, auf lange Sicht wird sich eine solche Investition also mit Sicherheit lohnen.

Quellen & Empfohlene Literatur

15 Punkte der SIAARTI

Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende – Deutscher Ethikrat

Sterben in Würde – Empfehlungen der Bioethikkomission

Burnout – LITFL

Mastering Intensive Care: „COVID-19 – We are all in this together“

Post scriptum – weitere Informationen

Bewusst am Ende und nicht zu Beginn dieses Beitrages möchte ich sehr oberflächlich auf Grundprinzipien der Medizinethik eingehen. Eine Erklärung ist kaum möglich, ich will allerdings Input und Anreiz zum selbstständigen Nachlesen geben.

Es ein paar wichtige Grundsätze, die man verstanden haben sollte um ethisch fundierte Entscheidungen zu treffen. Der erste Punkt ist das Wissen um die Grundsätze der modernen Medizinethik, man unterscheidet 4 Säulen die alle Überlegungen wie ein Fundament tragen:

  • Das Prinzip der Autonomie
  • Das Prinzip des Nicht-Schadens
  • Das Prinzip des Wohltuns
  • Das Prinzip der Gerechtigkeit

Die Ethik reicht bis in die Antike zurück und füllt ganze Bibliotheken, diesen 4 Prinzipien stellen im modernen Diskurs letztlich den gemeinsamen Nenner dar, sind am weitesten verbreitet und quasi universell akzeptiert.

Das Prinzip der Autonomie behandelt die Selbstbestimmung des Patienten, er muss über Behandlungen aufgeklärt werden und darf nur behandelt werden, wenn er zustimmt (Ein Gegensatz dazu wäre ein streng paternalistisches Modell).  Beim Nicht-Schadens Prinzip geht es darum, dass ärztliches Handeln kein objektives (Verletzung, Missachtung von Interessen) oder subjektives (Schmerz, sittlicher Schaden) Leid zufügen soll. Wohltun bedeutet für den Behandler, Gutes zu tun und Übel und Schaden zu verhindern,  das ist sehr allgemein ausgedrückt, bedeutet aber letztlich die Hauptmotivation unseres Handelns: Wir wollen Patienten heilen oder ihnen zumindest helfen. Die Gerechtigkeit ist im Kontext der COVID-19 Pandemie der wichtigste Punkt, da man in einem Setting begrenzter Ressourcen nicht um Gerechtigkeitserwägungen herumkommt.

Wie schon erwähnt hilft nur das selbstständige Nachlesen, zum Beispiel im kostenlos online verfügbaren Ethikmanual des Weltärztebundes.

Wie immer gilt: Der Einzelfall entscheidet. Der Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit und die genannten Empfehlungen sind ohne Gewähr. Die Verantwortung liegt bei den Behandelnden. Der Text stellt die Position des Autors dar und nicht unbedingt die etablierte Meinung und/oder Meinung von dasFOAM.

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